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Es war am zweiten Adventssonntag. Ich kam nach Hause von einer schönen Adventsfeier, schloss meine Wohnungstür auf, machte Licht, und da sah ich sie: Eine Maus, mitten auf meinem Teppich. Mit großen Augen blickte sie mich an.
Ich war erst erschreckt. Niemand hat gern Mäuse in der Wohnung. Ich auch nicht. Ich überlegte schon, wie ich das Tierchen ohne Gewalt wieder loswerden sollte. Aber ich staunte nicht schlecht, als die Maus ihren Mund öffnete und laut und vernehmlich „hallo“ sagte. Ich traute meinen Ohren nicht, aber da kam es ein zweites Mal, lauter und deutlicher als vorher „hallo“.
Ich war fassungslos. Eine sprechende Maus, so etwas gibt es sonst nur im Märchen. Ich zweifelte schon daran, ob ich nicht gerade am Träumen war. Aber da kam es ein drittes Mal „hallo!“ Eine sprechende Maus hatte ich vorher natürlich nie erlebt. Und so musste ich mich überwinden, selbst etwas zu sagen. „Hallo auch. Wer bist du kleines Wesen?“
Und ich bekam zur Antwort: „Ich bin eine Weihnachtsmaus.“
„Und wieso kannst du sprechen?“
„Das ist das Geheimnis von uns Weihnachtsmäusen. Jedes Jahr vom Advent bis zum Dreikönigstag können wir sprechen. Und wir dürfen in ein menschliches Haus einziehen und mit Menschen leben.“ Und nach einigem Zögern kam die Frage: „Du – darf ich dieses Jahr über Weihnachten bei dir bleiben?“
Ich überlegte. Ich wohne ja allein, ich bin es nicht gewohnt, dass ich meine Wohnung mit jemandem teilen muss. Auf der anderen Seite: Das versprach, spannend zu werden, Weihnachten mit jemand anderem zu verbringen. Und eine Maus wird schon keine so großen Ansprüche stellen. Und so sagte ich „ja“, und die Weihnachtsmaus zog bei mir ein. Ein Bett für den Gast war schnell gemacht; ein Pappschächtelchen, etwas Holzwolle und eine alte Socke genügten als Schlafgelegenheit. Mehr brauchte es nicht.
Es wurden lustige Wochen. Die Maus begleitete mich tagsüber bei allem, was ich tat. Wenn ich schrieb, saß sie auf meinem Schreibtisch und sah zu. Wenn ich kochte, war sie dabei und das eine oder andere Teilchen fiel immer wieder für sie ab. Beim Essen saß sie ganz brav auf meinem Tisch, bekam auf meinem kleinsten Teller einen Teil von meinem Essen. Ganz großartig fand sie das Plätzchenbacken. Kein Wunder, gab es doch immer wieder von den Teigen zu naschen, und auch das eine oder andere Plätzchen verschwand in dem kleinen Mäusemund. Als ich am 23. Dezember meinen Christbaum schmückte, half sie mir. Sie kletterte geschickt zwischen den Zeigen des Christbaums hin und her und sorgte dafür, dass die Strohsterne schön gerade hingen.
Es kam der Heilige Abend. Die Maus war ganz aufgeregt und voller Erwartung. Am Abend zündete ich die Lichter am Christbaum an und wir sangen zweistimmig „Stille Nacht“. Das klang lustig, die Piepsstimme der Maus und mein Bass miteinander – aber man konnte es gut hören; es klang überraschend harmonisch.
Dann wollte ich in die Christmette gehen; aber die Maus gab keine Ruhe und überredete mich, dass sie mit in die Kirche durfte. Ich hatte Bedenken, dass jemand sie entdecken könnte. Aber sie gab nicht nach. Also beschloss ich, dass sie mitgehen durfte. In meiner Manteltasche fand sie Platz und spitzte nur vorsichtig hervor. „Das war schön, die viele Lichter und die Musik und der Weihrauchduft. So habe ich Weihnachten noch nie erlebt. Gut, dass ich mitdurfte.“ So bedankte sich die Maus artig.
Wir hatten noch ein paar schöne Tage miteinander. Dann kam der Dreikönigstag. Am Abend sagte die Maus zu mir: „So, meine Zeit als Weihnachtsmaus ist vorbei. Ich danke dir für deine Gastfreundschaft. Ich werde jetzt wieder eine normale Stadtmaus bis zum nächsten Advent. Dann muss ich mir einen anderen Gastgeber suchen. Zurückkommen ist verboten – großes Weihnachtsmausgesetz.“
So plötzlich, wie sie gekommen war, war die Maus wieder verschwunden. Ich musste noch oft an sie denken. Und wenn ihr in diesen Tagen einer Maus begegnet – vielleicht ist das eine Weihnachtsmaus. Seid dann freundlich zu ihr und nehmt es ihr nicht übel, wenn sie das eine oder andere Plätzchen stibitzt.
Peter Wünsche, Dezember 2022
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