Zur Geschichten-Übersicht - Zur Homepage St. Maria Magdalena

Die Flöte

Maria kam in einem Jahr zur Welt, das vor allem als Unglücksjahr in der Erinnerung der Menschen geblieben ist: 1929. In diesem Jahr begann die große Wirtschaftskrise, die dann auch eine der Ursachen für den Zweiten Weltkrieg wurde. Maria wurde als Kind einer kinderreichen Familie in Schlesien geboren, sie war das achte von elf Kindern. Ihr Vater war in der großen Krise ein paar Monate arbeitslos, fand aber dann wieder eine Stelle als einfacher Arbeiter in einer großen Textilfabrik. Die Mutter kümmerte sich um die kleineren Kinder und verdiente abends durch Näharbeiten etwas dazu. Sie stammte aus einem Bauernhof; ihr Bruder, also Marias Onkel, gab ihr immer etwas von den guten Sachen ab, Butter oder Eier zum Beispiel, und so musste man trotz der schweren Zeiten nie Hunger leiden; meistens reichte es auch für den sonntäglichen Streuselkuchen. Aber sparsam sein war selbstverständlich.

Als Maria vier Jahre alt war, kam Hitler an die Macht, und vieles veränderte sich. Marias Familie war der Kirche sehr verbunden, und sie bekam schon als Kind mit, dass es die Nationalsozialisten mit den Christen nicht gut meinten. Vieles wurde verboten, katholische Jugendgruppen und Vereine, Prozessionen und Wallfahrten, alles, was öffentlich sichtbar war, wurde mehr und mehr untersagt. Nur noch die Gottesdienste in der Kirche blieben – und die Glaubensstunden am Nachmittag für die Kinder und Jugendlichen. So wuchs Maria in einer dunklen Zeit auf, aber ihre Familie und die Kirche boten ihr einen Schutzraum, der viel Böses draußen hielt.

Zu ihrem achten Geburtstag bekam Maria eine Blockflöte geschenkt. Für Musikunterricht war kein Geld da. Aber das machte nichts. In den nachmittäglichen Glaubensstunden mit dem Kaplan im Pfarrhaus gab es ältere Mädchen, die ihr das Flötespielen schnell beibrachten – so schwer ist das nicht. Und so konnte Maria mit neun Jahren so spielen, dass man ihr in der Familie unterm Christbaum gut zuhören konnte, und mit zehn Jahren spielte sie ihre Flöte als Solo beim Krippenspiel in der Kirche. Das war schon im ersten Kriegsjahr. Aber der Krieg war noch viele Kilometer weg.

Die jungen Leute, die sich da als katholische Jugend in den Glaubensstunden trafen, erlebten den Ernst der Zeit mit. Man hielt nichts von sentimentalem Kitsch und man hielt schon gar nichts von dem Militärdenken, dass überall Einzug hielt. „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ – das Lied war undenkbar mit seinem Wunsch „ja, ein ganzes Kriegesheer möchte ich gerne haben“. Aber auch „O Tannenbaum“, das nur die bürgerlichen Wohnzimmerweihnacht besang, erschien den jungen Leuten unpassend. Selbst mit „Stille Nacht“ konnte man nicht so sehr viel anfangen.

Es waren damals gerade ein paar Notenhefte erschienen, die alte Weihnachtslieder wieder aufbrachten. Es waren Lieder aus einer Zeit, als noch nicht jeder Reim abgegriffen und jeder Vergleich verbraucht war. Es waren Lieder aus der Zeit von 1500 bis 1700, als sich in den Kirchen muttersprachliche Lieder allmählich durchsetzten. Es waren Lieder voll sprachlicher Kraft, voller schöpferischer Bilder und offen für das ganze Leben mit seinen Schatten und seinen Freuden. Besonders das Lied „Es ist ein Ros entsprungen“, damals gerade wiederentdeckt, hatte es Maria angetan, es war ihr Lieblingslied. Und im Advent übte sie täglich, es immer schöner zu spielen. Ab zwölf Jahren durfte sie es nicht nur beim Krippenspiel der Kinder vorspielen, sondern auch nachts in der Christmette, manchmal allein, manchmal mehrstimmig mit anderen Flöte spielenden Mädchen.

Wie es mit dem Krieg weiterging, ist bekannt: Er ging für die Deutschen verloren. Und auch Marias Familie wurde getroffen: Marias ältester Bruder fiel als Soldat. Zwei weitere Brüder wurden eingezogen – jeden Tag musste sie um sie bangen, zusammen mit den Eltern und den anderen Geschwistern. Einige Geschwister starben an Kinderkrankheiten, weil es im Krieg zu wenig Medikamente gab. Und als der Krieg im Grunde schon verloren war, musste Marias Vater mit 50 Jahren noch zum „Volkssturm“, um zu dienen als letztes Aufgebot.

Der Gegner kam näher, bedrohlich nahe an Marias Heimat. Was war zu tun? Die Entscheidung war schwer, aber im Rückblick war sie richtig: Die Mutter und die Kinder, die noch zu Hause waren, machten sich auf den Weg – weg von der Front. Sie packten zwei Koffer auf einen Leiterwagen, setzten sich Rucksäcke auf und gingen so zum Bahnhof: Mutter, die inzwischen fünfzehnjährige Maria, zwei ältere Schwestern und der kleinste Bruder. Mit einem der letzten Züge verließen sie ihre Heimatstadt, voller Hoffnung, sie bald einmal wiederzusehen. Aber daraus wurde nichts.

Tagelang waren sie in Zügen unterwegs, Waggons vierter Klasse, auch Viehwagen waren ihre Unterkunft. Es war eine verzweifelte Stimmung. Aber manchmal zog Maria dann ihre alte Blockflöte aus dem Rucksack und begann zu spielen: Volkslieder, Wanderlieder, manchmal auch Weihnachtslieder und immer wieder „Es ist ein Ros entsprungen“. Und mitten in der Angst und der Hoffnungslosigkeit kam ein klein wenig Freude auf und ein bisschen Licht im Dunkeln der Züge und Flüchtlingslager: Und hat ein Blümlein bracht – mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht.

Der Krieg war verloren – aber er war wenigstens zu Ende. Von den elf Geschwistern hatten sechs den Krieg überlebt und der Vater auch. In einer fränkischen Kleinstadt wurde nach einem Jahr Wanderdasein eine Unterkunft gefunden. Maria und ihre Geschwister fanden schnell Anschluss in der neuen Heimat. Wieder lief es über die Kirche und die Musik. In den Jugendgruppen der katholischen Stadtpfarrei fanden Maria und ihre Geschwister neue Freunde. Man wanderte und sang und spielte Flöte und Gitarre, man war trotz der vergangenen dunklen Jahre voller Zuversicht. Ein Reis war gewachsen aus dem toten Rest eines Stammes.

Marias Leben verlief gut. Sie fand einen liebenden Mann, zwei Kinder wurden ihr geboren, später vier Enkel. Man feierte viele Feste zusammen, immer wieder Weihnachten, immer wieder kam dann die alte Blockflöte zu Ehren. Es war ein friedliches Leben, nicht ohne Sorgen, aber voller Güte und Hilfsbereitschaft.

Jahrzehnte später. Maria war eine alte, aber rüstige und immer noch aktive Frau geworden. Aus heiterem Himmel geschah das Unglück: Maria wurde plötzlich krank, Tage lang lag sie bewusstlos und unbeweglich da, und als sie endlich die Augen öffnete, konnte sie nicht mehr sprechen; nur noch „ja“ und „nein“ brachte sie über ihre Lippen. Ihre Familie kümmerte sich liebevoll um sie, auch als sie viel Pflege brauchte.

Wieder ein paar Monate später. Es war der 24. Dezember, vormittags. Die stumme Maria saß im Rollstuhl unter dem Christbaum. Die Kinder und die Enkel schmückten ihn. In der Kiste mit dem Christbaumschmuck fand Enkel Johannes eine uralte Flöte. Er nahm sie heraus, probierte vorsichtig, da er selbst Flöte spielen lernte. Die Töne, die da kamen, waren erst einmal nicht sehr erfreulich. Aber ein Flötenspieler weiß, was man da machen muss: Ein wenig Fett auf den Kork zwischen Flötenkopf und –körper streichen, eine Zeitlang spielen, damit das Holz wieder Feuchtigkeit annimmt, das löst fast immer das Problem.

Am Abend saß man dann wieder zusammen. Johannes hatte die alte Flöte neu eingespielt. Sie tat es wieder einwandfrei. Er fand ein altes Notenheft mit der alten Melodie. Und er ließ die Flöte klingen. Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart. Und das Lied stieß auf Resonanz. Im Inneren von Maria stieß es eine Tür auf. Die alte, kranke, stumme Großmutter Maria bewegte ihre Lippen, und ganz zart sang sie mit: Wie uns die Alten sungen, von Jesse kam die Art. Und hat ein Blümlein bracht: mitten im kalten Winter wohl zu der halben Nacht.

Diese Geschichte ist nur zum Teil erfunden. Maria gibt es, und sie lebt noch, auch wenn sie im wirklichen Leben anders heißt. Das große Wunder blieb aus: Sie kann jetzt, Jahre später, immer noch nicht sprechen; die Worte fallen ihr nicht mehr ein. Aber sie kann singen und tut das immer noch gern, vor allem an Weihnachten.

Peter Wünsche, Dezember 2017


peter.wuensche@t-online.de

Zur Geschichten-Übersicht - Zur Homepage St. Maria Magdalena