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In der vierten Klasse damals hießen sie die vier Unzertrennlichen. Sie saßen in der Schule nahe beieinander, sie spielten in der Pause meistens miteinander; sie teilten große Teile ihrer Freizeit, erkundeten ihr Stadtviertel und den nahegelegenen Wald – wie das Zehnjährige eben so tun. Und wie das damals so üblich war, Mitte der sechziger Jahre, nannten sie sich in der Schule und auch beim Spielen mit ihren Familiennamen: Müller, Meyer, Schmidt und Fischer.
Dann ging die Grundschulzeit zu Ende. Sie kamen in verschiedene Schulen, und die Unzertrennlichen wurden getrennt. Ihre Lebensläufe nahmen ganz verschiedene Richtungen; sie hörten jahrzehntelang nur wenig voneinander. Doch knapp sechzig Jahre später, in der Gegenwart, als alle vier Ende sechzig und im Ruhestand waren, beschlossen sie, ein paar Mal im Jahr wieder zusammenzukommen, ein oder zwei Bier miteinander zu trinken, die alten Zeiten wiederaufleben zu lassen und die neuen Zeiten zu diskutieren. So auch gegen Anfang des Advents 2023. Die vier trafen sich an einem Vormittag in ihrem Stammlokal in der Innenstadt und kamen wie immer schnell miteinander ins Reden.
Müller erzählte: „Ich war gerade mal auf dem Weihnachtsmarkt. Der ist leider nicht gar mehr das, was er früher einmal war. Früher – da gab es fränkische Bratwürste und Nürnberger Lebkuchen und Erlanger Beerenwein als Glühwein. Und heute: Holländische Waffeln, das geht ja noch, belgische Pommes frites lasse ich mir auch noch gefallen. Aber daneben ein türkischer Dönerstand. In der Nähe ein syrischer Imbiss mit Falafel und so Zeugs. Am Glühweinstand ist dieses Jahr kein Erlanger Beerenwein mehr zu haben. Dafür der neue große Renner: Lumumba!“
Meyer unterbrach ihn: „Das habe ich auch schon gehört, weiß aber nicht, was das ist. Klingt irgendwie afrikanisch – oder?“
Schmidt konnte Auskunft geben: „Lumumba, das ist Kakao mit einem Schuss Rum drin und mit Sahnehaube. Ist nach einem Politiker aus dem Kongo benannt, der vor 60 Jahren gestorben ist. Das Wort ist also wirklich aus Afrika.“
„Lumumba – klingt fast wie ‚humba-humba‘“, witzelte Meyer.
Und Müller klagte weiter: „Zwetschgenmännla sind kaum noch zu kriegen, dafür jetzt so genannte Kunst aus aller Herren Länder. Und die Musik vorhin kam von so einer arabischen Gruppe statt von einer ordentlichen Blaskapelle. Ich habe mich eher wie auf einem orientalischen Basar gefühlt als auf einem Weihnachtsmarkt.“
Und Meyer pflichtete ihm bei: „Ja, man fragt sich ernsthaft, was hier eigentlich gefeiert werden soll: Weihnachten oder irgendein Ramadan-Abschluss oder so was Ähnliches. Ich will das ganze Multi-Kulti Zeug nicht. Ich will meine alte fränkische Weihnacht wiederhaben – oder zumindest meine deutsche.“
Und Müller fügte hinzu: „In Nürnberg haben sie vor ein paar Jahren sogar ein indisches Mädchen zum Christkind gewählt.“
„Ein halb-indisches. Die Mutter ist Deutsche“, korrigierte Schmidt.
Müller gab zurück: „Ach was, Spitzfindigkeiten! Ganz oder halb-indisch, fremd bleibt fremd.“
Fischer war bis dahin stumm geblieben. Schmidt spürte aber, dass sein Nachbar schon das ganze Gespräch hindurch unruhig auf seinem Sitz hin und her rutschte. Und er fragte: „Du sagst gar nichts dazu?“
Fischer holte tief Luft. Er spürte, dass er jetzt unbedingt etwas sagen musste. Er sah das alles ganz anders. Aber er wollte es so sagen, dass er die anderen nicht verletzte. Er wollte die wiedergefundene Freundschaft nicht in Gefahr bringen. Und so redete er sehr vorsichtig.
„Liebe Freunde, ihr wollt ein rein deutsches oder fränkisches Weihnachten. Aber ich frage euch: Gibt es das eigentlich?
Es könnte ja sein, dass die Stadt Nürnberg mit ihrem so typisch fränkischen Christkindlesmarkt früher gerade deswegen so bedeutend war, weil hier Handel betrieben wurde mit so seltsamen Sachen wie Pfeffer und Zimt und anderen Gewürzen aus dem Fernen Osten. Markt entsteht aus Handel, große Märkte entstehen aus Fernhandel, gerade mit dem Orient.
Es könnte ja sein, dass die Fränkischen Bratwürste ohne Pfeffer und andere orientalische Gewürze wie Macis gar nicht schmecken würden.
Es könnte ja auch sein, dass auch ein guter Glühwein ganz selbstverständlich Zimt und Nelken und vielleicht noch andere orientalische Gewürze braucht.
Es könnte ja sein, dass Nüsse und Mandeln für Lebkuchen und Stollen in großen Mengen aus der Türkei und aus Kalifornien importiert werden, weil in Franken Mandeln gar nicht und Nüsse viel zu wenig wachsen. Dasselbe könnte ja für Zitronat und Orangeat gelten, für Korinthen und Sultaninen, die stammen alle weit aus dem Süden.
Der Weihrauch kommt ja vielleicht auch aus Vorderasien und Nordafrika, gelangt erst in das Erzgebirge, wird dort zu Räucherkerzchen verarbeitet und verbreitet dann seinen Duft auf fränkischen Weihnachtsmärkten als Import aus dem ‚ganz nahen Osten‘, also aus Sachsen, das manche immer noch für DDR und Ausland halten.
Bei ‚Lumumba‘ ist übrigens nur der Name neu. Kakao mit Rum und Sahne gibt es seit über 100 Jahren in Norddeutschland. Er heißt dort ‚Tote Tante‘.
Es könnte ja auch sein, dass gerade die Mischung aus Einheimischem und Exotischem einen Markt attraktiv macht.
Es könnte ja auch sein, dass bei alledem eine Dönerbude oder ein Stand mit syrischem Essen oder ein Christkind mit indischen Wurzeln gar nicht stört, sondern bereichert.
Es könnte ja auch sein, dass ein ‚reinrassig‘ fränkischer Weihnachtsmarkt ganz langweilig wäre.
Es könnte sein, dass es ‚am Ende des Ramadans‘ gar keine Krippe gibt; am Weihnachtsmarkt steht aber noch eine, sogar eine ziemlich große – Verwechslung ist also ausgeschlossen.
Es könnte ja sein, dass die Krippenbauer da auch etwas Wichtiges begriffen haben. Es gibt Heimatkrippen mit fränkischen Trachten, und es gibt Orientkrippen mit exotischen Gewändern. Beides hat seinen Sinn.
Es könnte ja sein, dass die Weihnachtsmärkte schon immer ‚Multikulti‘ waren – und dass das gar kein Schaden ist.“
Meyer unterbrach ihn. „Naja, wir wissen, dass du schon immer ein Gutmensch bist – immer mit Verständnis für alles. Aber ich mache da nicht mit.“
Fischer war noch nicht am Ende:
„Es könnte ja sein, dass es an Weihnachten um eine Geschichte geht, die ursprünglich im Nahen Osten spielt, im heutigen Israel und in Palästina, damals römische Provinz Syrien.
Es könnte ja sein, dass drei seltsame Gestalten, Magier oder Weise aus dem Mittleren Osten, in der Weihnachtsgeschichte auch eine gewisse Rolle spielen. Die kamen vielleicht aus Persien, das heute Iran heißt. Einer von den dreien könnte der Überlieferung nach auch aus dem tiefen Afrika gekommen sein.
Es könnte ja sein, dass Maria und Josef und das Jesuskind bald nach dem allerersten Weihnachten Flüchtlinge in Ägypten waren, dass sie als Ausländer und Kulturfremde dort ihre Schwierigkeiten hatten.
Es könnte ja sein, dass Weihnachten und kulturelle Vielfalt in der Wurzel eng zusammengehören.
Und übrigens: Die Adventsheiligen Barbara und Nikolaus waren beide aus dem Gebiet der heutigen Türkei. Das einzig Deutsche am Nikolaus ist der Knecht Ruprecht, dazuerfunden, um Kindern Angst zu machen – und wir hatten wirklich Angst vor dem; der schlug manchmal heftig zu.
Und schließlich: Josef, Maria und Jesus waren keine Biodeutschen, sondern von Abstammung und Glauben her Juden, orientalische Juden ohne alle Abstriche; aber das wisst ihr doch längst.“
Am Ende seiner Worte war Fischer doch gegen seine ursprüngliche Absicht ein bisschen leidenschaftlich geworden. Die anderen schwiegen erst eine Zeitlang. Und dann entstand eine rege Diskussion, die sich weit in den Mittag hineinzog. Einig wurden sie sich nicht, aber sie blieben Freunde. Als sie nach Hause aufbrachen, lag eine erste dünne Schneedecke auf den Straßen. Es war deutscher Advent.
Peter Wünsche, Dezember 2023
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