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Bild: Das Rauhe Haus in Hamburg um 1850

 

Wie lang denn noch?

„Pastor Wichern, wie lange ist es noch bis Weihnachten?“, fragte Hans den Direktor.

„Siebenundzwanzig Tage noch, Hans“ antwortete Pastor Wichern.

„Und wie viel ist das, siebenundzwanzig?“, kam als Frage zurück.

„Fünf Hände und zwei Finger!“, sagte der Pastor.

„Aber ich habe doch nur zwei Hände. Ist siebenundzwanzig Tage noch sehr lang?“

So war Hans. Er war sechs Jahre alt. Das Schuljahr begann damals immer nach Ostern, und ab dem kommenden Ostern sollte er die Schule besuchen. Deswegen fiel es ihm noch ziemlich schwer, sich eine so große Zahl wie siebenundzwanzig vorzustellen. Aber er gab sich alle Mühe, die Welt zu verstehen.

Als Hans geboren wurde, starb seine Mutter. Das war gar nicht selten in diesen Jahren um 1830. Kindbettfieber hieß die Krankheit; dass sie durch Bakterien verursacht wurde, wusste man damals noch nicht. Man nahm es einfach als Schicksal hin, dass immer wieder Mütter in den Tagen nach der Geburt daran starben.

Hans‘ Vater hieß Hein und war Steuermann von Beruf. Er war der Erste Steuermann auf einem großen Segelschiff mit vier Masten, und er lenkte das Schiff geschickt durch Wind und Wetter, von Hamburg ausgehend mal nach Westafrika und mal nach Amerika und wieder zurück. Er verdiente deutlich mehr als ein einfacher Matrose, wenngleich bei weitem nicht so viel wie sein Kapitän. Immerhin hatte er am Stadtrand von Hamburg ein kleines Häuschen, das er unterhalten konnte. Leider war er nur selten zu Hause. Die Reisen mit dem Segelschiff dauerten oft viele Wochen, und wenn er zu einer Fahrt aufbrach, konnte er nie ganz genau sagen, wann er wieder zurückkommen würde. Und oft musste er nach wenigen Tagen in Hamburg schon wieder aufbrechen.

Heins kleiner Sohn Hans hatte die ersten Jahre bei seiner Großmutter gelebt. Aber die war jetzt alt und schwach und konnte nicht mehr für ein kleines Kind sorgen. Hans‘ Vater hatte lang überlegt, was mit Hans geschehen sollte. Die meisten Kinderheime in dieser Zeit waren schlecht; es gab wenig zu essen, viel Arbeit und noch mehr Prügel. Das kam nicht in Frage.

Aber dann hatte Hein vom Rauhen Haus gehört. Das war ein Kinderheim, das anders war. Die Kinder lebten in kleinen Gruppen zusammen, die man „Familien“ nannte. Sie wurden durch Schule und handwerkliche Arbeit auf einen guten Beruf auf See oder an Land vorbereitet. Pastor Johann Hinrich Wichern hatte das Haus gegründet, das war im Jahr 1833, und leitete es zusammen mit seiner Frau. Den Namen hatte er von einem alten Bauernhaus übernommen, das schon vorher dort stand. Damals wusste niemand, woher der Name Rauhes Haus ursprünglich kam, und man weiß es bis heute nicht. Der Name passte gar nicht zu dem neuen Kinderheim, denn rau ging es da ganz und gar nicht zu. Pastor Wichern, seine Frau und einige Helfer, die man „Brüder“ und „Schwestern“ nannte, versuchten, die 50 Kinder mit Liebe und Milde zu erziehen und mit möglichst wenig Strafen auszukommen. Das war für diese Zeit ungewöhnlich, aber es funktionierte.

Und so schien es Hein am besten, den fünfjährigen Hans in das Rauhe Haus zu geben. Es schmerzte ihn selbst, aber er fand in der Stadt keine Arbeit, die ihm entsprach; er hatte keine Wahl, das Haus war die beste Lösung. Hans war anfangs der Jüngste im Rauhen Haus, aber nach einem halben Jahr hatte er sich einigermaßen eingewöhnt, vermisste seinen Vater, aber war sonst ganz zufrieden, hatte seinen sechsten Geburtstag gefeiert und auch ein paar Freunde gefunden.

„Wie lange ist es noch bis Weihnachten?“, so fragte also Hans den Pastor Wichern – wieder einmal. Und der überlegte: Wie mache ich einem Vorschulkind klar, was 27 Tage sind? Er wusste, dass für den kleinen Hans die Frage besonders wichtig war, wichtiger noch als für die anderen Kinder. Sein Vater hatte gesagt, dass er um Weihnachten wieder in Hamburg sein werde. Und so war Hans von einer doppelten Vorfreude geprägt: Von der Erwartung von Weihnachten und vom ersehnten Wiedersehen mit seinem Vater.

Und Pastor Wichern hatte eine Idee. Er ließ von den großen Kindern im Werkunterricht in ein ausgedientes Wagenrad 20 kleinere und vier größere Löcher bohren. In die großen Löcher kamen vier große weiße Kerzen, in die anderen zwanzig kleinere rote Kerzen. Nach drei Tagen war alles fertig.

Der 1. Dezember 1839 war ein Sonntag. Als die Kinder zum Morgengebet in den großen Betsaal im Rauhen Haus kamen, staunten sie nicht schlecht. Das Wagenrad hing waagrecht von der Decke wie ein Kronleuchter, und von den 24 Kerzen brannte eine einzige, eine von den großen weißen.

Und Pastor Wichern sagte: „Das ist ein Adventsrad. Von den 24 Kerzen zünden wir jetzt zum Morgen- und Abendgebet jeden Tag eine mehr an, am Sonntag eine große weiße, an den Wochentagen eine kleine rote. Dann könnt ihr immer sehen, wie lange es noch bis Weihnachten ist.“

Für Hans war das ganz wunderbar. Erstens machte die große Kerze ein schönes Licht. Zweitens konnte er sich vorstellen, dass es nun jeden Tag noch heller und schöner würde. Und an den Kerzen, die noch nicht brannten, konnte er immer sehen, wie viele Tage es noch bis Weihnachten waren. Es war ein großer Trost, dass es jeden Tag eine weniger war, die dunkel blieb.

Dann passierte noch etwas Schönes. Erik, ein Junge aus seiner Wohngruppe, der schon in die vierte Klasse ging und Hans auch sonst bei vielen Dingen half, der ging mit ihm immer schon ein paar Minuten vor dem Gebet in den Betsaal; dann schauten sie dem Hausmeister, der zugleich Küster im Betsaal war, beim Lichteranzünden zu und zählten halblaut mit und zählten auch bei den dunklen Kerzen weiter. Und nach einer Woche konnte Hans flüssig bis 24 zählen und musste sich nicht mehr mühsam vier Hände und vier Finger vorstellen.

So ging der Advent schnell vorbei, auch für Hans. Am vierten Adventssonntag brannten schon fast alle Lichter an dem Wagenrad-Leuchter; es war ein prächtiger Anblick, und die Vorfreude bei den Kindern wurde immer größer. Und dann kam zwei Tage später, am Dienstag, der Heilige Abend. Beim Morgengebet leuchteten erstmals alle 24 Kerzen. Jetzt waren es nur noch ein paar Stunden.

Und am späten Nachmittag wurde der Adventsleuchter sogar noch durch den Weihnachtsbaum übertroffen, der über und über mit Kerzen bestückt war. Hans staunte mit offenem Mund. Und so begann mit einer Hausandacht das Weihnachtsfest im Rauhen Haus. Man sang Weihnachtslieder; vor allem das Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ stand in hohen Ehren, da es von Martin Luther selbst gedichtet war und in schlichten Worten, die man leicht auswendig lernen konnten, das Weihnachtsgeschehen nacherzählte. Dann gab es, wie im Norden üblich, als Abendessen Würstchen mit Kartoffelsalat, was damals als eine besondere Köstlichkeit galt.

Nach dem Essen verteilte Pastor Wichern die Geschenke. Hans bekam ein kleines Päckchen, das sein Vater aus Afrika mit einem anderen Schiff vorausgeschickt hatte: Kleine Figuren, aus Zinn gegossen, aber keine Soldaten, wie sie viel Jungen hatten, sondern Tiere aus der Wildnis: ein Löwenpaar, ein Zebra, ein Nashorn, ein Nilpferd, sogar eine Giraffe und ein Elefant waren dabei. Hans war glücklich, fast vollkommen glücklich. So etwas hatte er sich schon lange gewünscht. Nur eines vermisste er noch.

Am ersten Weihnachtsfeiertag gingen dann alle Bewohner des Rauhen Hauses wie immer an Sonn- und Feiertagen in die nahe gelegene Pfarrkirche zum Gottesdienst. Und auf dem Rückweg sah Hans von ferne einen Mann am Haupteingang des Kinderhauses stehen. Eigentlich mussten die Kleinen beim Kirchgang schön zwei und zwei in der Reihe gehen. Aber Hans vergaß das. Er rannte los, auf den Mann am Eingang zu. „Papa!“, rief er immer wieder. Pastor Wichern wusste, dass den kleinen Hans jetzt niemand halten konnte, und ließ ihn laufen. Und dann lagen sich Vater und Sohn in den Armen. Das 24-tägige Warten war jetzt ganz zu Ende.

Und die Geschichte ist es eigentlich auch. Es gibt nur noch zwei kurze Nachträge.

Zum einen: Im Rauhen Haus schmückte man ein paar Jahre später das Wagenrad immer mit grünen Tannenzweigen. So wurde aus dem Adventsrad der Adventskranz. Viele übernahmen die Idee von Pastor Wichern, aber in kleinen Wohnungen haben nur kleine Kränze Platz, und so mussten die Werktagskerzen fast überall wegfallen.

Zum anderen: Der Steuermann Hein fand in Hamburg Arbeit auf einem der damals ganz neuen kleinen Dampfschiffe, die die großen Segler die Elbe hinauf- und herunterschleppten. So konnten die trägen Segelschiffe den Hafen schneller und sicherer erreichen, auch gegen den Wind. Jeden zweiten Sonntag hatte Hein frei; er holte dann Hans nach Hause und im Sommerurlaub auch. Sonst blieb Hans bis zum Ende der Schulzeit im Rauhen Haus, wurde dann mit dreizehn Jahren Schiffsjunge und mit siebzehn Matrose und war mit fünfundzwanzig ein geschickter und geschätzter Hafenschlepper-Steuermann wie sein Vater. Und als er selbst heiratete und Kinder hatte, gab es in seiner Familie jedes Jahr einen Adventskranz und in vielen anderen Familien und Kirchen auch – bis heute.

Peter Wünsche, Dezember 2019

Bild: CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=366190


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