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Ankunft

Man schrieb den 20. Dezember. Die Sonne war schon hinter dem Horizont verschwunden. In den Städten herrschte noch hektischer Betrieb, der Countdown für den heiligen Abend war angelaufen.

Aber es gab auch Orte, die ganz anders waren. In hunderten von Kirchen und Kapellen hatten sich Schwestern und Mönche zum Vespergottesdienst versammelt, zum feierlichen Abendlob. Eine Dichtung aus dem Frühmittelalter sah die Ordnung der Kirche für diesen Abend vor, einen Gesang aus der Reihe der O-Antiphonen. Das war eine Serie altehrwürdiger Texte, die für die Tage vor Weihnachten reserviert waren. Und fast gleichzeitig ertönte um diese Stunde zwischen Tag und Nacht der Gesang aus den Klöstern:

O Spross aus der Wurzel Jesse,
gesetzt zum Zeichen über die Völker –
vor dir verstummen die Herrscher der Erde,
dich flehen an die Völker:
O komm und errette uns,
erhebe dich,
säume nicht länger.

Der Mönch Johannes war einer von den vielen, die den Vers sangen. Und er fühlte, wie das Gebet Raum und Zeit überwand. Es kam in der Ewigkeit an. Der Herr hörte das Singen. Und der Herr beschloss: Heute geht diese Bitte in Erfüllung.

Es fielen keine Sterne vom Himmel. Der Herr kam leise.

Keiner außer Johannes hatte sein Kommen bemerkt. Der Herr setzte sich ins Chorgestühl zwischen die Mönche und sang mit Ihnen die Vesper zu Ende. Johannes sah staunend, wie er sich nach dem Segen erhob und zu den Mönchen sagte: „Euer Gebet hat sich erfüllt. Ich komme – jetzt.“ Ohne ein weiteres Wort ging er aus der Kirche hinaus in die Stadt. Zurück blieb eine Gruppe Mönche, die einen etwas ratlosen Eindruck machten.

 ***

„Das war heute der letzte Tag“, so begrüßte der Herr den Supermarkt-Manager. – „Ihr Kalender geht wohl falsch“, erhielt er zur Antwort, „vier Tage Weihnachtsgeschäft stehen noch aus.“

„Der Jüngste Tag ist da“ sprach der Herr den Werbetexter an. – „Cooler Spruch“, gab der zurück, „klingt aber zu altmodisch.“

„Mein Gott, Jüngster Tag, was ziehe ich da bloß an?“ fragte die Gräfin.

„Und wo gibt es Karten für das Event?“, fragte ihn der Fernsehmoderator.

„Da bin ich“ – „Wer?“ – „Jesus, den man den Christus nennt.“ – „Krieg’ ich ein Autogramm?“

„Friede sei mit dir“, begrüßte er den Kriegsminister. „Bloß nicht, dann verliere ich ja meinen Job.“

„Hallo!“ – „Stör mich nicht“, sagte der Junge, ohne von seinem Gameboy aufzublicken. „Ich bin gerade auf dem siebten Level.“ – „Morgen wirst du noch eine andere Stufe kennen lernen.“ „Was, gibt es noch ein höheres Level im Spiel?“ „Nein, in der Wirklichkeit.“

„Der Jüngste Tag ist da.“ – „Geht jetzt die Welt unter?“ fragte die Marktfrau. „Nein, sie geht neu auf.“

„Ich bin wiedergekommen“. – „Wie, was, wiedergekommen?“ fragte der Theologieprofessor. – „Hast schon richtig verstanden. Ich bin wieder da. Du hast doch in deinen Büchern selbst immer wieder davon geschrieben.“–  „Ja, aber doch nicht so. Hast du das wirklich wörtlich und ernst gemeint mit dem Wiederkommen“  – „Ja, wie denn sonst?“ – „So richtig todernst?“ „Eher lebendig ernst“, gab der Herr zurück.

„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit“, sang die Gemeinde gerade in der Abendmesse. – „Ihr habt recht, da bin ich, gerade bin ich am Kommen.“ – „Stören Sie nicht den Gottesdienst!“, herrschte ihn der Pfarrer an.

„Still, still, still, weil’s Kindlein schlafen will!“, sang der Chor in der Weihnachtsfeier des Trachtenvereins. – „Liebe Leute, das ist ja ganz nett, aber ich bin schon längst kein Kind mehr – und außerdem hellwach.“ – „Als Erwachsener rührst du uns nicht an.“ – „Ich habe viele angerührt und geheilt.“ – „Lass die Spitzfindigkeiten. Stänkerer können wir hier nicht brauchen.“

„Nun komm der Heiden Heiland“ übte der Organist am großen Instrument im Münster. – „Ich bin da“, sagte der Herr. „Wer – ich?“ – „Ich, der Heiland der Völker.“ – „Ach so ja, der Text ..., daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich interessiere mich bloß für Bachs Musik.“

Im Bischöflichen Ordinariat war noch Sitzung. Der Herr klopfte an und stellte sich vor. „Ihr könnt einpacken. Die Zeit Kirche ist vorbei, in ein paar Stunden ist Gottes Reich Wirklichkeit.“ – „Herr, das ist nicht fair. Gerade ist unser Seelsorgeplan fertig geworden. Jetzt war die ganze Arbeit umsonst.“

„Du kannst Feierabend machen“, sagte er zu dem arbeitslosen Mann, der das Klo im Stadtpark säuberte für einen Euro pro Stunde. „Morgen ist Sonntag.“ – „Wieso, morgen ist doch erst Mittwoch?“ – „Nein, morgen ist Sonntag, übermorgen auch, und überhaupt für immer.“ –„Und die Kohle kommt trotzdem?“ „Nein, ab morgen ist alles frei.“ „Super. Herrlich. Danke!“

„Wer bist du?“ – „Ich bin’s, Jesus, der Herr.“ – „Stimmt“, sagte das blinde Mädchen, „ich kann dich deutlich sehen.“

„Ach, du bist’s“, sagte der beinlose Ex-Soldat, „ich gehe gleich mit.“

„Geht’s jetzt mit mir zu Ende?“ fragte der Alte in seinem Pflegebett. – „Nein, es fängt an, ganz anders und ganz neu.“

„Du siehst ja fast so aus wie unser toter Sohn“, sagte das ältere Paar. – „Ja, ich sehe jedem lebendigen Menschen ähnlich.“

 ***

„Johannes, schläfst du?“

„Meinst du mich, Herr?“ Bruder Johannes schlug die Augen auf. Es war nicht der Herr, der vor ihm stand. Es war Bruder Benedikt.

„He, was ist los mit dir?“

„Mein Gott, ich muss wohl einen Augenblick beim Beten eingenickt sein. Aber ich bereue es nicht. Ich hatte einen seltsamen, wunderbaren Traum.“

Und gemeinsam sangen sie den Vers aus dem Magnificat:

Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben
und lässt die Reichen leer ausgehn.

Es war Advent – Ankunft.


Peter Wünsche, 4.12.2004

peter.wuensche@t-online.de

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