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Der Engel, der nicht in Bethlehem singen wollte

Und es geschah in jener Zeit, dass der Allmächtige die Scharen des Himmels vor sein Angesicht rief. Alle Fürsten und Mächte und Gewalten, Cherubim und Seraphim, Erzengel und Engel versammelten sich im himmlischen Thronsaal. Und Gott, der Herr, sprach zu ihnen:

„Heute Nacht wird es geschehen. Das Kind wird geboren. Es wird groß sein und Sohn des Höchsten heißen. Ich werde ihm den Thron seines Vaters David geben und er wird in Ewigkeit herrschen. Geht nach Bethlehem. Verkündet seine Geburt den Hirten dort und den Frieden auf Erden den Menschen.“

Und es erhob sich ein gewaltiges Rauschen wie von Flügeln. Der himmlische Thronsaal leerte sich; leerte sich … bis auf einen kleinen Engel, der zurückblieb. Sein Name war Lena. Er – oder sie – stand nun allein vor Gott.

„Was ist mit dir? Willst du nicht mit nach Bethlehem?“, fragte der Höchste. Und obwohl er alles weiß, klang seine Stimme doch verwundert.

„Herr, ich habe da noch eine Frage“, sagte Lena.

Sie mochte es, manchmal den Menschen als Kind, als Mädchen zu erscheinen, kluge, unschuldige und dennoch bohrende Fragen zu stellen und sie so zum Nachdenken zu bringen. Sie liebte diese Rolle, manchmal sogar beim Reden mit Gott. Der schaute sie gütig an und sagte:

„Dann sprich; hab’ nur Mut und sag’ was du denkst.“

„Herr, ich weiß, dass deine Entscheidungen immer richtig sind und seit Ewigkeiten feststehen. Aber – ich verstehe das nicht!“

„Was verstehst du nicht?“

„Warum muss es immer ein Junge sein, der als Retter geboren wird. Immer retten die Männer dein Volk und tragen den Ruhm davon! Abraham, Isaak, Jakob, Josef, Mose, Josua, Samuel, David … alles Männer! Bei uns Engeln macht das ja keinen Unterschied, wir erscheinen den Menschen in jeder Gestalt, als Frau oder Mann, Junge oder Mädchen, wie es gerade passt. Aber bei den Menschen – da haben die Männer den Ruhm, und die Frauen werden vergessen. Wenn ein Junge geboren wird, jubeln alle; bei einem Mädchen sagen sie bestenfalls: Ja schön.“

„Bist du nicht ein wenig ungerecht? In meinem Volk hat es doch auch große Frauen gegeben!“

„Ja ich weiß, Ruth und Judith und Esther zum Beispiel. Aber wer kennt die schon?“

„Immerhin haben sie ihre eigenen Bücher in der Heiligen Schrift!“

„Aber das sind doch die allerkleinsten Bücher in der ganzen Bibel. Könntest du nicht ein Mädchen als Retterin und deine Tochter in die Welt schicken – als ausgleichende Gerechtigkeit?“

„Ja, ich könnte. Ich habe das auch erwogen. Ich habe Mann und Frau als mein Ebenbild erschaffen. Aber ich muss auch an die Menschen denken, so, wie sie eben fühlen. Der Retter muss jetzt kommen. Leider sind die Menschen noch nicht bereit für eine Retterin. Das könnte in ein paar tausend Jahren anders sein. Aber jetzt würden sie auf eine Frau nicht hören. Daher muss es so sein.“

„Herr, ein paar tausend Jahre noch, bis die Menschen erkennen, dass Mann und Frau gleich wichtig sind vor dir und der Welt – ist das nicht sehr lang?“

„Willst du etwas tun, diese Zeit zu verkürzen?“

„Herr … ich … – wie soll das gehen?“

„Ich habe einen Auftrag für dich. Einen ganz besonderen Auftrag. Heute Nacht wird noch ein Kind geboren. Es wird Mirjam heißen. Ich brauche einen guten Schutzengel für sie. Wärst du bereit, den Dienst zu übernehmen?“

„Ich bin bereit!“

„Wirst du auch diesen Dienst tun, wenn er schwer wird – schwerer als bei den meisten anderen Menschen?“

„Traust du mir das zu?“

„Ja, deshalb frage ich ja gerade dich. Mirjam wird ohne Eltern aufwachsen. Nicht einmal ihre Mutter weiß genau, wer der Vater ist. Und die Mutter selbst wird bald nach der Geburt sterben. Mirjam wird von jung an auf sich selbst gestellt sein. Sie wird kaum Freunde haben, und die wenigen, die ihr nahe stehen, werden glauben, dass sie verrückt und gar besessen ist. Sie wird mit bösen Menschen zusammenkommen, und viele werden sie selbst für schlecht und eine Sünderin halten. Bist du immer noch bereit?“

„Ich werde mich bemühen, so gut ich kann.“

„Und dann wird für Mirjam eine Prüfung kommen, der nur wenige standhalten. Sie muss etwas tun, was nur wenigen Menschen gelingt: stärker sein als ein unsäglicher Schmerz, eine Liebe zu haben, die stärker ist als der Tod. Willst du immer noch für sie da sein?“

„Du weißt, dass ich will – obwohl ich Angst davor habe, selbst als Engel.“

„Dann soll es sein. Gerade wird das Kind Mirjam geboren. Sei ihr Schutzengel!“

Und so geschah es. Über dem Hirtenfeld von Bethlehem schwebten Gottes Scharen – alle bis auf einen kleinen Engel. Der stand in einer schmutzigen, windschiefen Hütte, einige Tagereisen entfernt, unsichtbar neben einem neugeborenen Mädchen. Da für Engel menschliche Entfernungen keine Rolle spielen, konnte Lena die anderen singen hören: Ehre sei Gott in der Höhe! Lena sang ganz leise mit. Und auf Erden Friede den Menschen.

„Ja, Friede sei auch mit dir, Mirjam“, sagte der Engel zu dem neugeborenen Mädchen. Auf dessen Augen lag ein Anflug von Lächeln und machte die schäbige Umgebung ein wenig heller.

*****

Drei Jahrzehnte und einige Jahre mehr zogen ins Land. Der Schutzengeldienst wurde für Lena noch schwerer, als sie sich das erwartet hatte. Sie ging mit Mirjam durch große Dunkelheit, sie freute sich mit ihr über einige wenige Stunden höchsten Glücks. Lena sorgte dafür, dass sich Mirjams Schritte mit der des Retters kreuzten. Mirjam schloss sich den Frauen an, die den Retter begleiteten. Sie wurde seine Jüngerin.

Und es kam die Stunde, über die Gott mit dem Engel im Voraus gesprochen hatte. Es war die Stunde, die die Welt verdunkelte. Es war die Stunde, da Gottes Sohn sich für einen Augenblick selbst von Gott verlassen fühlte. Seine Freunde waren schon vorher weggelaufen. Aber Mirjam stand unter dem Kreuz. Sie brach beinahe zusammen; sie wäre fast davongegangen wie die anderen. Ihr Schutzengel Lena stütze sie unsichtbar. Und Mirjam hielt aus.

Als alles vorüber und der Leib des Retters begraben war, wurde Lena zum Höchsten gerufen. Sie durfte ganz allein zu ihm, wurde empfangen wie sonst nur Gabriel, der höchste der Erzengel. Gott sah sie an, und es war unendlich viel Güte in seinem Blick und höchstes Lob. Und er gab ihr einen neuen Auftrag, den im Voraus niemand außer ihr erfahren durfte.

Lena ging auf die Erde zurück. Am Morgen des ersten Tages der Woche lenkte sie die Schritte Mirjams zum Grab. Und als Mirjam das Grab betrat, ganz verwundert, dass es offen war und leer, da zeigte sich Lena, der Engel, dem Menschen Mirjam: diesmal als große Lichtgestalt. Und der Engel richtete die Botschaft aus:

„Du suchst Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Sieh die Stelle, wo er lag. Dann geh zu seinen Jüngern und sag: Er ist auferstanden. Er geht euch voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen.“

So erfüllte der Engel seinen Auftrag: Die größte Botschaft, die je ein Engel zu einem Menschen gesprochen hat, Mirjam hörte sie.

*****

So könnte es gewesen sein. Vielleicht war es auch ganz anders. Wir Menschen wissen nicht viel über die Welt der Engel.

Aber sicher ist: Mirjam, die tapfere junge Frau, wurde zur ersten Zeugin der Auferstehung, zur ersten Christin, zur Apostolin der Apostel. Und die Menschen lernen allmählich, dass Gott alle als sein Abbild geschaffen hat: als Mann und als Frau.

Ach ja: Das Geburtshaus Mirjams stand in der Stadt Magdala. Und die Heutigen kennen Mirjam meist unter ihrem griechischen Namen: Maria Magdalena.

Peter Wünsche, 9.12.2007

 


peter.wuensche@t-online.de

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