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Ein alter Esel

"He, was machst du da? Wer bist du eigentlich und wo kommst du so plötzlich her? Wer hat dich hereingelassen? Was fällt dir ein, meinen Stall zu betreten? Das ist ja der Gipfel!" Das Kamel war wirklich außer sich. Es streckte die Nase in die Höhe, schüttelte den Kopf, holte kräftig Luft und wieherte dann mit ganzer Kraft: "RAUS HIER!"

"Ganz cool bleiben!" sagte der Esel. "Was willst du eigentlich: Soll ich gehen, oder soll ich dir deine Fragen beantworten? Beides zugleich geht nicht."

"Zuerst die Fragen und dann raus", sagte das Kamel. "Ich kann Esel nicht ausstehen."

"Wir werden ja sehen." Den Esel schien nichts aus der Ruhe zu bringen. "Also schön langsam eine Frage nach der anderen: Ich bin ein alter Esel. Ich komme aus Judäa. Und dein Herr hat meinem Herrn erlaubt, dass ich heute Nacht hier bleibe. Du wirst es schon ein paar Stunden mit mir aushalten müssen. Heute ist das sozusagen nicht dein Stall, heute Nacht ist das unser Stall."

"Eine Zumutung ist das. Mein Herr lässt doch auch kein Schwein in sein Schlafzimmer. Und ich soll mir meinen Stall mit einem Esel teilen?"

"Der Vergleich geht nicht auf. Schweine stinken, Esel nicht."

"Aber Esel sind doof!"

"Und Kamele sind ziemlich eingebildet. Bei uns daheim ist übrigens 'du Kamel' ein Schimpfwort für die ganz Doofen."

In seiner Würde schwer gekränkt, gab das Kamel keine Antwort. Als sie so eine Viertelstunde nebeneinander hergeschwiegen hatten, in der das Kamel einsah, dass es an seiner Lage jetzt nichts ändern konnte, siegte doch wieder die Neugier. "Aus Judäa bist du? Wie kommst du dann hierher nach Ägypten?"

"Das ist eine lange Geschichte."

"Wir haben ja jetzt Zeit. Also erzähl schon." Und insgeheim dachte das Kamel: 'Wenn ich es schon mit einem Esel aushalten muss, dann kann er mir wenigstens die Langeweile vertreiben.'

"Also gut, dann fange ich mal ganz am Anfang an."

"Wo denn sonst?"

"Eben. Also, geboren wurde ich vor 16 Jahren auf der Eselsfarm von Kisch. Schön war es da. Das Futter war reichlich, und wir jungen Esel spielten den ganzen Tag miteinander. Natürlich fütterte uns Kisch nicht aus reiner Tierliebe. Er wollte halt, dass wir schnell stark werden und er einen guten Preis für uns erzielt. Das war uns aber egal. Hauptsache, wir konnten das Leben genießen. Aber alles Schöne ist immer so schnell vorbei. Als ich anderthalb Jahre alt war, verkaufte mich Kisch an Rufus. Der war ein Feldwebel in der römischen Armee."

"Die Römer – regieren die bei euch auch?"

"Natürlich, die regieren doch die ganze Welt. Jetzt begann für mich der Ernst des Lebens, wie das die Menschen immer sagen. Aber für einen Esel ist der Ernst des Lebens viel ernster als für Menschen, glaube ich. Rufus war nicht böse. Aber er war eben ein römischer Soldat. Hart zu sich selbst, hart zu den anderen, und besonders hart zu mir. Ich half ihm sein Haus zu bauen, ich trug seine Frau und seine Kinder und sein Gepäck, wenn er wieder einmal versetzt wurde, ich begleitete ihn als Packtier ins Manöver. Das war immer für mich das Schlimmste."

"Nicht der Krieg?"

"Den habe ich nie erlebt. Es ist doch jetzt der Römische Friede angesagt."

"Schöner Friede: Alle kuschen vor den Römern, da brauchen die gar keinen Krieg; die kriegen auch so, was sie wollen. Aber wir schweifen ab. Erzähl weiter". Fast schon bedauerte es das Kamel, dass es Interesse gezeigt hatte. Es wollte eigentlich lieber in kühler Distanz bleiben.

"Es war halt ein richtiges Eselleben. Viel Arbeit, schon genug Futter, aber meistens bloß Gras und im Winter Heu. Wenn Rufus gut gelaunt war, gab es einmal einen Krug Gerste, wenn er schlecht gelaunt war, gab es nichts. Und wenn er sehr schlecht gelaunt war, dann gab es Schläge. Leider war er ziemlich oft sehr schlecht gelaunt. – Als ich ungefähr vier Jahre alt war, begann ich mich zu wehren. Ich suchte mir die Rolle 'störrischer Esel' aus."

"Was gibt's da auszusuchen? Ihr Esel seid doch alle störrisch."

"Typisch Kamel: gescheit tun, aber keine Ahnung. Wir Esel sind nicht von Natur aus störrisch. Es ist eben unsere Art, sich zu wehren. Zwischen Rufus und mir wurde das so ein richtiger Kleinkrieg. Wenn ich nicht so wollte wie er, dann schlug er zu. Wenn er schlug, dann wollte ich erst recht nicht mehr. Dann schlug er kräftiger. Da wurde ich noch bockiger. Das ging so lange, bis einer nachgab."

"Der Klügere gibt nach."

"Das sagen die Menschen, aber das stimmt auch nicht immer. Wenn Nachgeben ein Zeichen von Klugheit ist, dann müsste ich ja das reinste Superhirn sein. Aber ich gab meistens nur wegen der Schmerzen nach. Das Spiel wiederholte sich fast jeden Tag von neuem, er schlug und ich bockte. Dem Rufus schrieen sie schließlich nach: 'Ist denn dein Esel aus Holz?' Einer sagte einmal: 'Mach doch deinem Esel Räder, dann kannst durch ihn ja als Spielzeugtier hinter dir herziehen.' Rufus war stadtbekannt für seinen störrischen Esel. Aber Rufus konnte sich keinen anderen Esel leisten und schon gar kein Pferd oder gar ein Kamel. Er musste mich behalten."

"Dein Pech", warf das Kamel ein.

"Sein Pech aber auch", sagte der Esel. "Fast vierzehn Jahre war ich im Dienst von Rufus. Arbeiten, fressen, schlafen, manchmal Schläge: ein richtiges Eselleben eben. Ich glaube, den meisten von uns geht es nicht besser. Und ich dachte, das ist eben unser Esellos – bis dann der Tag kam, der alles änderte."

"Aha", witzelte das Kamel, "da kam die gute Fee und kaufte dich frei."

"Nicht im Geringsten. Der Tag fing schon schlecht an. Nur ein Büschel halbfaules Heu zum Frühstück. Dann ging es auf den Markt. Es roch dort wunderbar, aber niemand gab mir auch nur eine Rübe. Rufus lud mir einen Korb Fische und einen Korb Feigen auf. Daheim stellt er die Körbe neben mir ab. Den Korb mit den Fischen trug er zuerst ins Haus. Das war sein Fehler."

"Wieso?"

"Kannst du dir doch denken. Eigentlich wollte ich nur eine Feige aus dem anderen Korb naschen. Aber die schmeckte so süß. Also genehmigte ich mir eine zweite und dann noch eine dritte. Nach der fünften dachte ich mir: 'Jetzt merkt er es bestimmt. Dann ist eh schon alles egal.' Als Rufus wieder nach draußen kam, war der Korb leer – das heißt nein, zwei Feigen waren noch drin, aber die waren schon ein bisschen schimmelig, die mochte ich auch nicht."

"Sehr witzig!"

"Gar nicht witzig. Rufus wurde erst bleich und dann knallrot. Er zog seinen Stock und schlug zu. Zum ersten Mal nicht auf mein Hinterteil, sondern auf meinen Kopf. Er schlug nicht einmal oder zweimal, er hörte gar nicht mehr auf. In meiner Not tat ich dann auch etwas, was ich noch nie getan hatte: Ich biss zu, nicht allzu fest, aber sein Unterarm war schon ein bisschen blutig."

"Ein bisschen?"

"Kann schon sein, dass er ein bisschen sehr blutig war. Verblutet ist Rufus jedenfalls nicht. Aber seine Wut war jetzt endlos und gab ihm die Kraft, noch mehr zuzuschlagen. Ich brach zusammen. Er ließ mich auf der Straße liegen. Er meinte wohl, er hätte mich erschlagen."

"Dann hätte ich jetzt meinen Stall für mich", raunzte das Kamel, aber es war nicht ganz ernst gemeint.

"Die Nacht kam, und in der Kühle erholte ich mich ein bisschen. Ich wachte mit furchtbaren Kopfschmerzen auf. Vorsichtig stand ich auf, und dann lief ich weg. Ich lief die ganze Nacht durch, den ganzen nächsten Tag und noch eine Nacht. Dann konnte ich nicht mehr. Der Wirt Onophilos fand mich. Er brachte mich in seinen Stall. Er pflegte mich. Er gab mir zu fressen. Mit mir ging es schnell wieder aufwärts. 'Es gibt eben doch auch gute Menschen', dachte ich. Aber im Stall neben mir stand ein Ochse. Der verriet mir, dass Onophilos bei den Menschen als hervorragender Wirt bekannt war, berühmt wegen seiner guten Rinder- und Eselssteaks. Da war mir klar, warum mich Onophilos so gut pflegte."

"Igitt – Eselsbraten!" Das Kamel rümpfte die Nase.

"Viele mögen das nicht, die Juden dürfen gar nicht, aber für manche andere ist das eine Delikatesse. Ich war vom Regen in die Traufe gekommen. Ich sah mich schon am Spieß gegrillt. Aber wie du siehst, ich lebe."

"Bist du wieder geflohen?"

"Das ging bei Onophilos nicht, er benutzte feste Ketten im Stall. Es kam ganz anders. Eines Tages war in der Stadt unheimlich viel los. Ich sah es durch das Stallfenster. Menschen kamen aus der Umgebung und von weit her, Reiche, Arme, Junge, Alte, Gesunde und sogar Kranke mit Krücken und Bahren. Es war ein Riesengewühl. Alle wollten in der Stadt bleiben. Irgendwie hatte es wieder so einen seltsamen Befehl von den Römern gegeben. Die hatten wohl gemerkt, dass sie mit der Steuer angeschmiert wurden. Und jetzt wollten sie genau wissen, wie viele Leute es eigentlich in ihrem Reich gab. Alle mussten in ihre Heimatstadt, um sich alle am selben Tag in irgendwelche Listen einzutragen. Dass das im Chaos enden musste, war klar. Den Römern war das egal. Ich glaube, die spinnen, die Römer. Jedenfalls kamen am Abend zwei junge Leute in den Stall. Ihre Reise war ein bisschen langsamer gegangen. Die Frau wartete jeden Augenblick auf ein Kind, und so mussten sie sich Zeit lassen, kamen spät in der Stadt an, und da waren alle Wirtshäuser schon voll."

"Sag bloß, die hat ihr Kind im Stall gekriegt?"

"Genau so war es. Der Mann wollte noch Hilfe holen. Aber es war schon zu spät. 'Bleib bitte bei mir', sagte sie noch, 'das geht schon so.' Das Nächste, was ich hörte, war das Schreien eines Kindes. Es war da. Es fror und es zitterte. Ein paar Windeln hatten die beiden schon mitgebracht, ein paar Decken fanden sich auch in einer Stallecke. Aber dann wollte die Frau schlafen. Sie war total fertig von der Reise und von der Geburt. Aber was wird derweil mit dem Kind? Der Fußboden war kalt, ein Bett war natürlich nicht da. Ich begriff, worum die zwei sich Sorgen machten. Ich habe ja die Sprache der Menschen einigermaßen verstehen gelernt, bloß sprechen kann ich nicht. Und mir kam eine Idee: Auffällig schnaubte ich und leckte die letzten Gerstenkörner aus der Futterkrippe, die vor mir stand. Ganz sauber machte ich den Trog. Dann ging ich einen Schritt zurück, scharrte mit den Hufen, nickte ein paar Mal mit dem Kopf in Richtung Krippe und rief einmal kräftig 'I-A'. Die Frau und der Mann dachten sich wohl zuerst: 'Jetzt ist der Esel verrückt geworden.' Aber dann begriffen sie, sahen sich an, lachten einander zu, lachten zu mir hin, legten zwei Bündel Stroh in die Krippe und das Kind darauf und deckten es gut zu. Ja, das mit der Krippe war meine Idee."

"Schlaues Kerlchen!" sagte das Kamel ironisch, aber ein bisschen Bewunderung schwang schon auch in der Stimme mit.

"Sag ich doch. Wir Esel sind gar nicht so dumm. Zum Schlafen kamen die beiden Erwachsenen übrigens erst viel später. Ständig kam Besuch, der das Kind im Futtertrog sehen wollte. Keine Ahnung, woher die das wussten. Und als die Frau und der Mann sich dann am Morgen todmüde hinlegten, da hielt ich Wache, abwechselnd mit dem Ochsen. Wenn dem Kind jemand hätte etwas tun wollen – ich hätte ihn schlimmer zugerichtet als Rufus."

"Das glaube ich dir sofort, Beißerchen" sagte das Kamel.

Der Esel ließ sich nicht ärgern. "Ein paar Tage ging das so. Es war schön und friedlich mit den anderen im Stall. Ich vergaß fast, dass auf mich die Bratpfanne wartete. Es hätte ruhig endlos so weiter gehen können. Aber es kam wieder anders. Eines Morgens weckten mich laute Stimmen. Die eine gehörte Onophilos. Die andere gehörte dem Metzger – nein, gar nicht wahr. Die gehörte dem jungen Vater. Der verhandelte mit dem Wirt. Ich begriff: Er wollte mich kaufen. Der Wirt wollte mich nicht hergeben. Aber der junge Mann kratzte all sein Geld zusammen und bot es dem Wirt. Ich merkte: Der Mann war unheimlich unter Druck und brauchte unbedingt ganz schnell einen Esel. Onophilos bekam am Ende einen unverschämten Preis und gab mich her."

"Und weiter?"

" 'So, du bist jetzt unser Esel', sagte die Frau zu mir. Ich bin Mirjam, das dort ist Josef Bar Jaakov, das Kind heißt Joschua und dich werde ich Issachar nennen.' Ein Name für mich – das war etwas Neues. Bei Rufus war ich immer nur "der Esel" oder "das Vieh", je nachdem, wie seine Laune war, und natürlich hatte mir auch Onophilos keinen Namen gegeben."

"Issachar, das klingt aber komisch."

"Passt schon, ich finde den Namen schön. Klingt ein bisschen wie ein Eselsschrei. Aber Mirjam sagte dann zu mir: 'Issachar, du musst uns helfen. Wir müssen fliehen, weit weg nach Ägypten. Jetzt müssen wir uns ganz auf dich verlassen können.' Dann ging alles ganz schnell. Im Nu war gepackt, viel hatten die drei nicht, und wir zogen los nach Süden. Ach, übrigens: Der Ochse ist auch nicht geschlachtet worden, aber das ist eine andere Geschichte, die erzähle ich dir morgen."

"Was, bist du morgen auch noch da?", fragte das Kamel, aber sein Entsetzen war nur noch gespielt.

"Wer weiß das schon. Nach den Wochen, die ich hinter mir habe, halte ich alles für möglich. Was nämlich dann kam, war furchtbar: Wir gingen manchmal dreißig Meilen an einem Tag. Es gab ständig Gerüchte, dass uns Soldaten auflauerten. In der Wüste bin ich – nein: sind wir fast verdurstet. Einmal gerieten wir in einen Hinterhalt von Straßenräubern, die Josef und Mirjam nur noch die Kleider am Leib ließen. Einmal gab es zwei Tage nichts zu essen und nichts zu fressen. Im Sinai mussten wir über die Berge, weil die Täler zu gefährlich waren. Bei der Überfahrt über den Nil schließlich kenterte die überfüllte Fähre, zu unserm Glück kurz vor dem Ufer. Damals bei Rufus war es anstrengend. Das hier aber, diese Flucht war die reinste Schufterei, nicht zu vergleichen. In dem Vierteljahr war ich öfter völlig fertig als in den vierzehn Jahren bei Rufus. Aber das war nur die eine Seite."

"Und die andere?"

"Das waren die drei Menschen, die mit mir unterwegs waren. Die weinten oft und schimpften manchmal, wie andere auch. Aber ich hatte das Gefühl, sie wussten sich trotz allem sicher. Sie vertrauen einem Unsichtbaren, den sie Gott nennen. Davon verstehen wir Tiere nicht viel. Aber wenn ich am Ende meiner Kräfte war, dann redeten sie mir gut zu und ließen das Kind meine Mähne streicheln. Da fühlte ich eine starke Kraft, die von dieser Hand ausgeht, und dann konnte ich doch irgendwie weiter. Ich glaube, Joschua ist ein ganz besonderes Kind. – Jetzt sind wir hier, in Ägypten. Hier werden die Mutter und das Kind übrigens mit ihren griechischen Namen genannt: Aus der Mirjam wurde eine Maria und aus dem Joschua ein Jesus. Ein bisschen Tarnung ist in dieser Lage vielleicht gar nicht schlecht."

"Und wie geht es jetzt weiter mit euch?" Zum ersten Mal fragte das Kamel wirklich mitfühlend.

"Was morgen wird, weiß ich nicht. Die drei werden wohl einige Zeit hier bleiben müssen. Josef wird hier Arbeit finden oder auch nicht. Er ist Zimmermann. Bauhandwerker werden gebraucht – aber ausländische und gar jüdische Bauhandwerker nicht so sehr. Mal sehen. In meine Heimat komme ich sicher nie mehr zurück. Für so eine weite Reise bin ich in ein paar Jahren zu alt, das weiß ich. Aber das ist jetzt egal. Ich habe sie hergebracht. Ich habe mein Teil beigetragen, dass Joschua lebt. Ich habe einmal etwas Wichtiges getan. Ich bin ein anderer Esel geworden. Ich bin nicht mehr das störrische Vieh von Rufus. Ich bin der alte Esel Issachar. Ich bin der Esel von Mirjam und Josef und Joschua. Das ist genug. Schlaf gut, Kamel."

"Gute Nacht, Issachar".

Peter Wünsche, 2.12.2001

peter.wuensche@t-online.de

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