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Fremde

Als die Sterndeuter wieder gegangen waren, erschien dem Josef im Traum ein Engel des Herrn und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten. Da stand Josef in der Nacht auf und floh mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten.

So erzählt Matthäus im zweiten Kapitel seines Evangeliums. Wie es dann weiterging, das wissen wir nicht genau. Aber da den Menschen ihre Natur eigen ist und seit 2000 Jahren sich zwar die Lebensumstände geändert haben, aber nicht so sehr das Wesen des Menschen, war es vielleicht so, wie hier erzählt wird.

Kurzmeldung des Unter-Grenztorhüters Abubakar an den Kommandanten der Grenzwache am Bittersee

Hochverehrter, geschätzter Kommandant, heute kam hier an der Grenze zur Provinz Ägypten eine Familie an, bestehend aus einem Mann, seiner sehr jungen Frau und einem Säugling; außerdem gehört ein Esel zu der Gruppe. Sie geben an, aus Judäa zu kommen, und sie bitten um Asyl. Das kam bisher nicht vor, Flüchtlinge aus Judäa hatten wir hier noch nicht. Ich habe die drei in vorläufigen Arrest genommen und bitte um weitere Anweisungen.

Befehl des Bennu, Kommandant der Grenzwache am Bittersee an Abubakar, Unter-Grenztorhüter

Die Flüchtlingsfamilie ist genauestens zu befragen. Durchsuchung des gesamten Gepäcks wird angeordnet einschließlich Leibesvisitation. Sie sind weiter als Gefangene zu betrachten. Nach Durchführung Bericht an mich. Eilt sehr.

Bericht des Unter-Grenztorhüters Abubakar an Bennu, den Kommandanten der Grenzwache am Bittersee

Werter Kommandant, alles, was Ihr angeordnet habt, wurde getreulich ausgeführt. Der Mann heißt Josef und stammt aus Bethlehem in Judäa; das war auch sein letzter Aufenthaltsort. Die Frau heißt Maria, das Kind Jesus. Der Mann gibt an, Zimmermann zu sein, die Frau kann nach eigener Angabe ganz gut spinnen und weben. Die Durchsuchung brachte eine Bestätigung der Volkszählungsbehörde aus der Stadt Bethlehem zutage; das macht die grundlegenden Angaben glaubhaft. An weiteren Dingen von Wert wurden gefunden: Ein kleiner Sack mit Weihrauch, ein Tongefäß mit guter Myrrhe und ein Lederbeutel mit zehn Goldmünzen, angeblich ein Geschenk, ansonsten nur wertloser Alltagskram. Als Fluchtgrund geben sie an, dass Herodes, derzeit König von Judäa, dem Kind nach dem Leben trachtet. Belege gibt es dafür freilich keine. Wie soll ich weiter verfahren?

Anfrage von Bennu, Kommandant der Grenzwache am Bittersee an den Regionalstatthalter Snofru

Hochverehrter Statthalter, um die Berechtigung einer Einreise prüfen zu können, erbitte ich Informationen zu König Herodes von Judäa. Gibt es Nachrichten über Verfolgungen in Bethlehem und Umgebung?

Antwort von Snofru, Regionalstatthalter Nordost an Bennu, Grenzwachenkommandant

Ich habe weiter oben im Außenamt nachgefragt. Es liegen keinerlei Nachrichten über Verfolgungen durch Herodes vor; er gilt als guter und erfolgreicher Herrscher. Er hat den Juden sogar einen neuen Tempel gebaut. Flüchtlinge aus Judäa sind somit grundsätzlich nicht aufzunehmen. Juden sind zudem die Nachfahren der Hebräer, die den Pharao vor 1200 Jahren in große Bedrängnis geführt haben. Durch List eines gewissen Mose kam damals eine größere Zahl von unseren Streitwagenleuten ums Leben. Juden hassen die Ägypter bis heute und sind aus unserer Sicht potentielle Gefährder.

Befehl des Bennu, Kommandant der Grenzwache am Bittersee an Abubakar, Unter-Grenztorhüter

Die Familie des Josef ist weiterhin in Arrest zu halten. Wiederholte verschärfte Befragung, notfalls mit Einsatz körperlicher Mittel: Auf welchen Informationen beruht die Behauptung der Verfolgung durch Herodes? Behauptete Tatsache erscheint extrem unwahrscheinlich.

Bericht des Unter-Grenztorhüters Abubakar an Bennu, den Kommandanten der Grenzwache am Bittersee

Hochgeschätzter Kommandant, besagter Josef erteilte bereitwillig, ja sogar freundlich Auskunft. Anwendung von Folter war nicht notwendig. Josef gibt an, dass ihm ein Engel im Traum erschienen ist und ihn anwies, nach Ägypten zu fliehen. Angeblich meint Herodes, das neugeborene Kind werde ihm einst den Thron streitig machen. Josef führte, wie er sagte, nur den Befehl des Engels aus. Sonst weiterhin kein Nachweis von Verfolgungssituation.

Befehl des Bennu, Kommandant der Grenzwache am Bit-tersee an Unter-Grenztorhüter Abubakar

Merke dir: Die Bewohner der Provinz Ägypten sind die gelehrtesten unter den Völkern des römischen Reiches. Wir brauchen Fakten, nicht Träume, nicht Phantasien, nicht Engelerscheinungen. Ägypten kann nicht jeden Träumer aufnehmen. So ergeht folgender Bescheid: Verfolgung ist nicht glaubhaft; Judäa ist sicheres Herkunftsland. Die Familie des Josef ist aus dem Grenzarrest zu entlassen und abzuweisen. Das Gold ist einzuziehen, da kein Nachweis des ehrlichen Erwerbs zu erbringen ist. Ansonsten keine Strafmaßnahmen. Anmerkung: Ob und wie sie den Rückweg durch den winterlichen Sinai schaffen, ist ihr Problem.

***

So die Aktenlage. Und so endete die Geschichte Gottes mit den Menschen am Grenzzaun der Provinz Ägypten. Der Mensch Jesus, kaum geboren, war schon verloren. Die Flucht nach Ägypten war gescheitert. Gott war in der Welt, und sie hatte ihn nicht aufgenommen. Alles blieb beim Alten.

Aber es kam doch anders. Außerhalb der Akten, ohne die Bürokratie. Es könnte sein, dass der Untertorhüter Abubakar ein Einsehen hatte. Es könnte sein, dass er aus Mitleid seine Pflichten verletzt hat. Es könnte sogar sein, dass er dem Josef und seiner Familie falsche Papiere besorgte. Es könnte sein, dass er dafür noch die Myrrhe und den Weihrauch als Bezahlung brauchte. Es ist denkbar, dass Josef in Ägypten sogar Arbeit gefunden hat; den treuen Esel brachte er als Arbeitstier in ein Baugeschäft ein und durfte mitarbeiten und so seine Familie am Leben erhalten. Es könnte sein, dass Maria durch Weberei etwas dazuverdiente. Es war wohl so, dass die drei einige Jahre in Ägypten gut durchkamen, weil Gottes Hand über ihnen war. Wie es genau war, wissen wir nicht.

Aber Matthäus berichtet:

Dort (in Ägypten) blieb Josef bis zum Tod des Herodes. Denn es sollte sich erfüllen, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.

Als Herodes gestorben war, erschien dem Josef in Ägypten ein Engel des Herrn im Traum und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und zieh in das Land Israel; denn die Leute, die dem Kind nach dem Leben getrachtet haben, sind tot. Da stand er auf und zog mit dem Kind und dessen Mutter in das Land Israel.


Peter Wünsche, 6.12.2015

peter.wuensche@t-online.de

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