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Glocken

Im Nordostturm des neuen Bamberger Doms, in dem Turm, welcher der Stadt am nächsten liegt, hängen Heinrich und Kunigunde, zwei neue, große, schwere Glocken.

Die Menschen schreiben das Jahr 1237. Der Bamberger Dom, nach einem Brand wiedererrichtet, größer und schöner als zuvor, soll geweiht werden. Bischöfe und Äbte, Domherren und Fürsten sind angereist, wollen dabei sein bei der heiligen Handlung. Heinrich und Kunigunde, die beiden großen Glocken, rufen zur Feier der Weiheliturgie. Und sie tun das auf eine Weise, die allen Anwesenden einen heiligen Schauer einjagt. So große Glocken, solch eindrückliche Klänge hat bisher kaum jemand gehört. Die Glockengießerkunst steht erst am Anfang, der Ton der Glocken wirkt noch etwas rau und wild – aber alle sind beeindruckt von dem Klang: Gott ist groß – kommt, betet an. Der tiefe Glockenton erreicht auch die Tiefe der Seelen.

So nehmen Heinrich und Kunigunde ihren Dienst auf. Für den Alltag haben sie kleinere Geschwister in den anderen Türmen, aber an den großen Festen läutet Heinrich oder Kunigunde zur Messe und zur Vesper, und an den ganz großen Festen, Ostern und Weihnachten, da dürfen sie zusammen läuten.

Das bedeutet einigen Aufwand. Die Heinrichsglocke wiegt etwa so viel wie 60 erwachsene Menschen; acht Männer sind nötig, um sie zu läuten. Kunigunde bringt es immerhin noch auf 40 Menschengewichte und braucht sechs starke Männer, um sie in Bewegung zu versetzen.

So läuten die beiden großen Glocken Jahr für Jahr und Fest für Fest. So verkünden sie: „Der Heiland ist geboren“ und „Christ ist erstanden“. Die Domherren und das ganze Volk freuen sich über ihre großartigen Glocken; jeder Ton lässt auch ihre Herzen mitschwingen.

Und dann haben die Glocken auch noch eine andere Aufgabe: Die Menschen im Mittelalter sind davon überzeugt, dass Glockenklang Schaden abwenden kann. Besonders bei Sturm und Gewitter werden sie geläutet zum Schutz der Kirche und der Stadt.

62 Jahre vergehen. Das Jahr 1299 ist ein sehr unruhiges. Erst haben die Winterstürme nicht weichen wollen, und als es April geworden ist, setzt eine wochenlange Folge von heftigen Gewittern ein. Vereinzelte Häuser am Rand der Stadt sind schon vom Blitzschlag getroffen; zum Glück konnten die Bürger die entstehenden Feuer schnell wieder löschen. Aber dann kommt dieser Tag im Juni.

Eine schwarze Gewitterwand zieht von Osten auf die Stadt zu – und Ostgewitter gelten als besonders heftig. Die Befürchtungen werden wahr, fast im Takt eines Herzschlags sind die Blitze zu sehen und die Donner zu hören. Man kennt keinen anderen Schutz als die Glocken. Mit aller Kraft der Verzweiflung ziehen die Glöckner an den Seilen, lassen die Glocken viel weiter ausschwingen als sonst. Der Glockenklang wird zum Getöse und kämpft gegen die Donner an. Ein Blitz trifft die bronzene Christusstatue auf dem Domplatz und beschädigt sie. Die Glöckner stecken noch mehr Kraft in ihr Läuten. Und dann – ein kräftiges Donnern im Nordostturm. Alle sind überzeugt: Jetzt hat der Blitz in den Turm eingeschlagen.

Aber es war nicht der Blitz. Das übermäßige Läuten hat die Heinrichsglocke von ihrem Joch abgerissen. Mit einem dumpfen Knall ist sie heruntergefallen. Jetzt liegt sie am Boden der Glockenstube, den sie halb durchschlagen hat. Und ein Stück Bronze ist aus ihrer Wandung herausgebrochen, ein Stück Bronze, so groß wie ein Messbuch. Der Schaden ist groß, viel zu groß, um ihn wieder heil zu machen. Jahrelang muss Kunigunde nun allein den Festtagsdienst tun. Heinrich liegt zerstört unter ihr. Das tut weh.

Einige Jahre später hört Propst Johann, der Vorsteher des Domkapitels, von Meister Wolfgang, dem Glockengießer, der herrliche neue Glocken schaffen kann. Er lädt ihn ein an den Dom. Meister Wolfgang schaut sich die zerstörte Glocke an, setzt sich hin und rechnet nach. Und während Kunigunde weiter treu ihren Dienst tut, wird die Heinrichsglocke aus der Glockenstube geborgen und auf den Domplatz gebracht. Eine tiefe Grube wird dort ausgehoben, und Meister Wolfgang verbringt viele Tage in der Grube, arbeitet geheimnisvoll vor sich hin. Neben der Grube wird ein Schmelzofen mit einem riesigen Eisenbottich errichtet. Eine schier endlose Karawane von Fuhrwerken bringt Unmengen von Holz zum Domplatz.

Und dann kommt der entscheidende Tag. Ein gewaltiges Feuer brennt unter dem Eisenbottich. Und für die alte Heinrichsglocke kommt das Ende. Was von ihr noch übrig ist, wird in Teile zersägt, und diese werden im Bottich eingeschmolzen. Hätte Kunigunde eine Seele – und manche glauben, dass Glocken so etwas haben – dann wäre ihr Schmerz unerträglich gewesen beim Anblick von dem, was da auf dem Domplatz geschieht: Heinrich löst sich auf, nur ein Kessel voll rotglühender Bronze bleibt übrig.

Dann ist es so weit: Der Bottich wird geschwenkt. Funken sprühen. Ein gleißender Strom von flüssigem Metall ergießt sich in die Grube, in der Meister Wolfgang aus Wachs und Ton die Gussform errichtet hat. Und dann heißt es warten – mehrere Wochen lang, bis die Schmelze erstarrt ist.

Als es so weit ist, steigt Meister Wolfgang wieder in die Grube. Mit einem Hammer zerschlägt er vorsichtig die Form aus Ton; mit einem Flaschenzug und dem Einsatz von acht Ochsen wird eine neue Glocke aus der Grube gezogen. Es gelingt nicht immer, aber diesmal ist der Glockenguss wirklich geglückt. Eine neue Glocke ist entstanden aus der zersprungenen alten, eine große Glocke, etwa so hoch wie Mensch. Mit großem Aufwand wird sie nach oben gezogen, in den Glockenstuhl eingefügt. Ein Schmied macht ihr noch einen passenden Klöppel aus Eisen, den Meister Wolfgang mit einem Lederriemen in die Glocke einbindet. Da hängt sie, die neue Heinrichsglocke, wiedergeboren aus dem Feuer, auferstanden aus Bruchstücken und Scherben.

Man schreibt das Jahr 1311. Es ist der der 6. Mai, der Weihetag des Doms. Die neue Heinrichsglocke darf zum ersten Mal läuten. Und schon die ersten Schläge der neuen Glocke lassen auch die Herzen der Hörer höher schlagen. Einen solchen Klang hat noch niemand gehört. Es ist ein fester, tief gegründeter Klang, es sind Töne, so rein wie noch bei keiner Glocke vorher, ein perfekter Molldreiklang, wie man ihn sich von einer idealen Glocke nur wünschen kann.

Und als sie zusammen läuten, die alte Kunigundenglocke von 1237 und die neue Heinrichsglocke von 1311, dann ist es, wie wenn tausend Engel ihre Flügel rauschen lassen, dann ist es, als ob der Himmel ein Stück aufgeht, dann wird etwas von der Größe Gottes spürbar, aber auch von seinem unergründlichen Geheimnis.

Im Nordostturm des neuen Bamberger Doms, in dem Turm, welcher der Stadt am nächsten liegt, hängen noch heute Heinrich und Kunigunde, zwei große, schwere Glocken. Kunigunde ist die ältere, ihr Klang ist rau und wild, man hört ihr das Alter von 800 Jahren an. Heinrich ist inzwischen auch sehr alt, über 700 Jahre, aber doch 80 Jahre jünger als Kunigunde. Und sie gehört zu den besten Glocken, die aus dem Mittelalter übrig sind, manche sagen: Sie ist die klangschönste Mittelalterglocke weltweit; und sie stellt die Glocken, die man in späteren Zeiten geldsparend viel leichter baut, weit in den Schatten.

Der Ton von Heinrich und Kunigunde ist auch heute noch in der ganzen Stadt zu hören. Vor allem in der Nacht, wenn es sonst still ist, hüllen sie die Stadt mit ihrem Klang ein. Sie läuten in den heiligen Nächten. Und nach wie vor ist es ihre vornehmste Aufgabe, in der Osternacht zu verkünden: Christ ist erstanden und in der Christnacht Der Heiland ist geboren.

 


Bild: Kunigundenglocke; Quelle: Wikimedia; Lizenz: CC BY-SA 3.0

Peter Wünsche, 7.12.2014

peter.wuensche@t-online.de

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