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Giftiger Hahnenfuß

Wenn man „Legende“ hört, setzt man gern das Wort „alt“ davor. Es gibt viele alte Legenden. Aber nicht alle Legenden sind alt. Und jede alte Legende war einmal neu. Warum also nicht einmal eine neue Legende hören? Diese ist so neu, dass sie nur wenige schon gehört haben.

Am Rand der Stadt stand ein alter Stall. Er war nicht besonders groß, er war nicht besonders schön, er bot eher schlecht als recht ein wenig Schutz vor Wind und Regen und Kälte. Seine Dauerbewohner waren ein Ochse und ein Esel, und wenn das Wetter ganz schlecht war, kamen noch ein paar Schafe dazu.

Menschen kamen selten in den Stall, sie kamen meist nur, um die Tiere zu füttern oder den Ochsen für die Feldarbeit oder den Esel für den Tragdienst zum Markt abzuholen.

Um den Stall herum standen einige Pflanzen, wie man sie fast überall findet, Alltagspflanzen: Kräuter und Unkräuter und Sträucher und ein paar Bäume. Sie redeten miteinander in der Sprache der Pflanzen, die für Menschen fast unhörbar ist, sie nehmen nur ein leises Rascheln wahr. Die Pflanzen beobachteten, was um sie herum vorging und unterhielten sich darüber. Denn selbst handeln, das können die Pflanzen kaum. Ihre Wurzeln halten sie fest.

Und dann kam diese seltsame Nacht. Ein Mann und eine Frau suchten im Stall Zuflucht vor der Kälte, und kurz darauf hörte man den Geburtsschrei eines kleinen Kindes. Er drang bis zu den Pflanzen nach außen. Dann sahen die Bäume und Kräuter ein Licht in der Ferne, fast so hell wie die Sonne. Und eine Stunde später füllte sich der Stall mit Menschen, Hirten und Hirtinnen wollten das neugeborene Kind sehen, und sie waren ganz ergriffen und sangen vor Freude und verehrten es als ganz besonderes Kind, als Heiland und Retter. Die Stalltür stand halb offen, weil es so viele Leute waren, und so hörten die Pflanzen draußen mit, was da gesprochen und gesungen wurde.

Als die Hirten wieder gegangen waren, sagte die uralte weise Eiche, die vor dem Stall stand: „Ich glaube, dass das eine besondere Nacht ist, eine heilige Nacht. So viel ich verstanden habe, soll das Kind der Retter seines Volkes und der Retter der Welt sein. Ich bin froh, dass ich das erleben durfte. Jetzt hat sich meine Zeit erfüllt, ich kann in Frieden sterben.“

An der Seite des Stalles stand der unscheinbare, giftige Hahnenfuß. Dem wollte das gar nicht gefallen: „He, Eiche“, sagte er, „nicht so eilig mit dem Sterben; erst müssen wir diese Geburt doch feiern – am besten mit einem Blütenfest.“

„Im Winter blühen – wo gibt’s denn so was? Das war noch nie so“, sagte der Fliederbusch.

„Alles geschieht irgendwann einmal zum ersten Mal!“ Aber der Hahnenfuß kam damit nicht gegen den Flieder an.

„Was willst du denn?“, gab der Rosenstock zurück. „Du mickriges Giftgewächs willst feiern? Mit dir feiere ich ganz gewiss nicht, du Giftzwerg. Da bin ich mir zu schade.“

Der Hahnenfuß schwieg.

Die Herbstzeitlose sagte: „Ich habe gerade erst geblüht. Ich kann nicht schon wieder. Dazu bin ich zu schwach.“

„Versuch es doch“, sagte der Hahnenfuß. Aber er bekam keine Antwort mehr.

Der Apfelbaum sagte: „Ich würde ja gern, aber ich habe Angst. Wenn ich jetzt im Winter blühen würde, dann brächte ich dieses Jahr keine Äpfel. Die Blüten würden vielleicht erfrieren, und jetzt im Winter gibt es keine Insekten, die sie bestäuben. Ich kann nicht mitfeiern.“

Die Palme meinte: „Mir ist es hier sowieso zu kalt. Jeden Winter fürchte ich, dass ich an Kälte sterbe. Und da soll ich jetzt auch noch blühen – nein, beim besten Willen, das ist mir zu gefährlich.“

Und der Hahnenfuß sagte zum Apfelbaum und zur Palme: „Habt doch keine Angst. Heute geschieht Wunderbares – da wird euch schon nichts passieren!“ Aber die beiden Bäume schwiegen.

Der Feigenbaum wollte auch nicht mitfeiern: „Retter, ach was, wieder nur so eine unnötige Aufregung. Ein Kind ist wie das andere. Wo kämen wir hin, wenn wir wegen jeder Geburt so einen Aufstand machten?“

Der Hahnenfuß war traurig, dass sich keiner auf seinen Einfall einließ.

Die Tanne hinter dem Stall sagte: „Schade, ich hätte gern gefeiert. Aber was nützt das? Meine Blüten sind so klein und unauffällig, das merkt ja doch niemand, wenn ich blühe. Ich kann nur eines tun. Ich lege meine Äste ganz dicht an den Stall, das schützt vor dem Wind, und drinnen ist es ein bisschen wärmer.“

„Wenigstens eine, die tut, was sie kann“, dachte der Hahnenfuß und sagte zur Tanne: „Gute Idee, ich danke dir“!

Und so entschuldigten sich alle Pflanzen, eine nach der anderen. Die einen hatten gute Gründe, die anderen erfanden Gründe, weil sie einfach keine Lust hatten, und einige machten sich über den kleinen giftigen Hahnenfuß lustig und seinen Einfall, mitten im Winter zu blühen: „So eine Dummheit!“

Der Hahnenfuß war fast am Aufgeben. Irgendwie waren die Pflanzen doch wie viele Menschen: Mutlos, ängstlich, träge, schwer zu begeistern. Aber dann beschloss er: „Ich feiere eben allein. So eine Nacht darf nicht einfach vorbeigehen.“ Er nahm all seine Kraft zusammen, und bis zum Morgen hatte er es tatsächlich geschafft, eine einzelne Blüte zu treiben. Mit dem Sonnenaufgang öffnete sich die Knospe. Es war eine unscheinbare Blüte, mehr braun als gelb, nicht besonders groß und ohne starken Duft. Aber es war eine Blüte an dem kalten, grauen Wintertag.

Als die schwache Wintersonne gegen Mittag ein bisschen Wärme brachte, trat die Frau, die in der Nacht geboren hatte, vorsichtig vor die Tür, gestützt von ihrem Mann und das Kind auf dem Arm. Sie sah um sich. Und ihr Blick traf die Blume – es war die einzige Blüte weit und breit.

„Na, du Kleiner“, sprach sie zu dem giftigen Hahnenfuß, „du bist ja mutig, dass du jetzt blühst. Aber ich freue mich an deiner Blüte. Du bist tapfer, du gibst alles, was du kannst.“

Und das Kind streckte seine Hand aus und zeigte auf den giftigen Hahnenfuß. Eine wunderbare Wärme durchzog ihn. Und er spürte, dass er sich verwandelte. Seine Blüte wurde größer und strahlend weiß wie Schnee. Die neuen goldenen Staubgefäße passten prächtig dazu. Und die Kälte machte ihm gar nichts mehr aus.

Die Frau sagte zu ihm: „Danke, dass du ein Hoffnungszeichen mitten im kalten Winter geworden bist. Die Menschen solle durch dich an die Worte des Propheten Jesaja erinnert werden: ‚Aus der Wurzel des Stammvaters Jesse soll ein Reis wachsen und blühen und Frucht tragen.‘ Sei nicht traurig, dass du giftig bist. Giftig musst du bleiben, damit du Schutz hast. Aber deine wunderschönen neuen schneeweißen Blüten kannst du jetzt in jedem Winter treiben – als immerwährende Erinnerung. Du wirst für immer mit der Geburt des Retters verbunden sein und seinen Namen tragen.“

Und seither blüht das kleine Hahnenfußgewächs jeden Winter um die Weihnachtszeit. Die Menschen lieben die Blume trotz ihres Gifts – sie müssen sie ja nicht essen. Und der kleine giftige Hahnenfuß trägt seither den Namen des Retters: Christrose.


Peter Wünsche, 8.12.2013

peter.wuensche@t-online.de

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