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Herberge

Eigentlich bin ich ja ein verträglicher Mensch. Ich gehe nicht schnell in die Luft. Ich kann einiges einstecken. Aber heute muss ich mich einmal beschweren – ja, bei euch, die ihr heute so friedlich vorweihnachtlich beisammen sitzt. Warum beschweren? Immer wieder werde ich schlecht gemacht. Immer wieder zieht man über mich her, in fast jedem Krippenspiel und so ungefähr in jeder zweiten Weihnachtsgeschichte. Was habe ich denn getan – was habe ich euch denn getan, dass ich da ständig als Sündenbock herhalten muss?

Aber vielleicht stelle ich mich doch erst einmal vor. Habakuk heiße ich, und ich betreibe mit meiner Frau Dina eine Herberge in Bethlehem. Ich bin stolz auf meine Herberge – schon mein Ururgroßvater hat sie gegründet, und wir sind ein stolzes Haus, das kann ich sagen, 24 Zimmer, und die sind nicht übel. Natürlich geht es mal besser und mal schlechter, wir sind eben ein Saisonbetrieb, man muss sich schon anstrengen, wenn man das Erbe zusammenhalten und mehren will.

Also neulich, da hab ich mich richtig gefreut. Den Kaiser mag ich ja sonst nicht besonders, ich mag überhaupt keine Römer. Aber was ihm da eingefallen ist, das war schon toll. Eine Volkszählung, mitten im Spätherbst, wenn kein vernünftiger Mensch ohne ganz wichtigen Grund verreist. Wirklich gut, ein tolles Zusatzgeschäft außerhalb der Saison. Schon in den ersten Tagen hatte ich fast alle Zimmer voll. Viele kamen nach Bethlehem. Wenn ihr euch da nicht so auskennt: In Bethlehem ist 1000 Jahre vor mir unser König David der Große geboren worden. Viele sind stolz auf ihre Abstammung vom Königshaus – mag das nun stimmen oder nicht. Viele kamen jedenfalls, um sich hier bei uns eintragen zu lassen.

Eines Abends klopft es wieder an meiner Tür. „Wer kommt den jetzt noch?“, dachte ich mir. Ich ging hinaus, und da standen sie: Ein Mann, so um die dreißig, mit einer sehr jungen Frau – sie war sicher höchstens siebzehn, und sie war deutlich schwanger. Warum die jungen Mädchen immer nicht aufpassen!

Beide sahen nicht besonders gut aus. Von der langen Reise waren sie schmutzig und trotz der Kälte verschwitzt; die Frau saß auf einem ziemlich abgemagerten Esel. Ich erkannte sofort: Da lässt sich kein Geschäft machen. Und meine Frau flüsterte mir gleich ins Ohr: „Lass die bloß nicht rein, die machen sicher Ärger mit der Rechnung“. Und ich flüsterte zurück: „Ich habe alles im Griff.“

Laut fragte ich den jungen Mann: „Was kannst du zahlen?“

„Wie wäre es mit zwei Denaren pro Nacht?“, fragte er zurück.

„Na“, dachte ich mir, „so furchtbar arm scheint er gar nicht zu sein.“ Zwei Denare pro Nacht, das ist mein Normalpreis für ein einfaches Zimmer. Aber ich ließ mir nichts anmerken, nur mein Lachen war vielleicht ein bisschen zu künstlich. Ich lachte laut heraus: „Zwei Denare – guter Mann, das ist lächerlich. Du siehst doch, was in der Stadt los ist. Unter zehn kriegst du hier kein Mauseloch. Und ein anständiges Zimmer kostet mindestens zwanzig.“ Ja, so ähnlich sagte ich. Ich muss wirtschaftlich denken. Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. Hohe Nachfrage – hoher Preis. So funktioniert Wirtschaft eben. Ehrlich: Ihr hättet das auch so gemacht – oder?

Tatsächlich konnte ich meine letzten Zimmer dann eine halbe Stunde später für dreißig Denare an eine reiche Kaufmannsfamilie vermieten. Ich wäre ja dumm gewesen, sie billiger herzugeben. Ich bin kein Unmensch – aber eben auch kein Dummkopf.

„Dann müssen wir eben anderswo suchen“, sagte die junge Frau, „komm, Josef, ich habe nicht mehr viel Zeit.“ Sie gingen weg. Traurig, aber ich bin ein Wirt und nicht das Sozialamt. Oder was hättet ihr getan?

Etwa eine Stunde später ging ich dann noch mal ums Haus, um die Fensterläden zu schließen. Und da sah ich sie wieder, immer noch auf der Suche. Der junge Mann ging schleppend, der Esel sah aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen, und die Frau saß ganz krumm auf dem Rücken des Tiers. Ein Zimmer hatte ich nun ja wirklich nicht mehr, und so konnte ich mir sagen: „Nichts zu machen.“

Aber hartnäckig sind die Leute schon. Als ich gerade wieder ins Haus gehen wollte, sprach mich der Mann an, ganz höflich und schüchtern: „Siehst du gar keine Möglichkeit mehr, dass wir irgendwo unterkommen? Wenn wir nicht bald was finden, wird meine Frau das Kind auf der Straße bekommen.“

Und da fiel mir ein: Ich hatte ja noch einen Raum, nicht besonders bequem, nicht besonders wohlriechend, aber immerhin mit vier Wänden und einem Dach. Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliches Handeln, dachte ich mir. Ich ließ mein Herz erweichen: „Ich könnte euch im Stall unterbringen. Da ist Platz, da steht gerade bloß ein Ochse; den anderen musste ich letzte Woche zum Metzger bringen. Ich gebe euch den Raum für zwei Denare pro Nacht – aber ohne alles. Wenn ihr versprecht, keinen Ärger zu machen, dann könnt ihr erst einmal da bleiben.“

„Nein, Ärger machen wir sicher nicht“, versicherte der Mann, von dem ich inzwischen wusste, dass er Josef heißt, und wirkte sehr erleichtert. Ich war auch erst einmal froh. Zwei Denare sind zwei Denare; Krümel machen Brot – so sagt ihr doch auch, oder?

Hätte ich es nur nicht geglaubt, das mit dem „keinen Ärger machen.“ Erst ging alles gut. Die Leute bezogen mit ihrem Esel den Stall und waren ruhig. Aber dann ging es los. Um Mitternacht kam tatsächlich das Kind. Eine Wanne heißes Wasser wurde gebraucht. Ich stand auf, schürte den Herd an und kümmerte mich darum, setzte natürlich einen Denar extra auf die Rechnung und einen halben als Nachtzuschlag. Kaum war das Kind gebadet und gewickelt, fragten die Leute nach einer Wiege. Nein, so was habe ich wirklich nicht mehr, meine Kinder sind alle schon erwachsen. So legten sie ihr Kind in die leere Futterkrippe des zweiten Ochsen.

„Jetzt reicht es aber“, dachte ich mir. Doch es ging erst richtig los. Um zwei Uhr klopfte es an meine Tür. Gerade war ich eingeschlafen und schreckte auf. Ich wollte erst nicht aufmachen, aber die Klopfer gaben einfach keine Ruhe. Ich öffnete – draußen standen ein paar ziemlich wüste Gestalten, Hirten oder so; schmutzig und ungepflegt standen sie da.

„Ist bei dir der Messias gerade geboren worden?“

„Ja spinnt ihr jetzt völlig“, gab ich zurück, schon ein bisschen laut, „mitten in der Nacht so einen Lärm zu machen und so einen Unsinn zu fragen!“ – Oder was hättet ihr gesagt, wenn da wildfremde Leute so spät so ein Spektakel machen?

Was mich dann gewundert hat: Sie wussten, dass das Kind in der Krippe liegt. Zufall wahrscheinlich, aber ich war doch ziemlich verblüfft. Und um meine Ruhe zu haben sagte ich: „Gut, geht in den Stall und schaut euch das Kind an – aber in fünf Minuten geht ihr wieder.“ Und wieder war ich einfach zu gutherzig. Meint ihr, die wären nach fünf Minuten gegangen? Aus den fünf Minuten wurden zehn und zwanzig, dann fingen sie auch noch zu singen an, uralte Lieder von unserem König David. Ich habe ja nichts gegen Psalmen. Aber nachts um drei und mit den rauen Stimmen von Viehhütern– das muss ja wirklich nicht sein. Erst nach über einer geschlagenen Stunde sind die Hirten wieder gegangen, fast halb vier war es. Ich war richtig sauer. Ich brauche auch meinen Schlaf, genauso wir ihr.

Und immer noch war keine Ruhe. Die Hirten hatten zwei Lämmer mitgebracht. Um halb fünf fingen die wie wild das Blöken an. Richtig doof: Die Hirten hatten die Lämmer verschenkt, ohne sie zuvor noch mal zu füttern. Josef brauchte mich gar nicht zu wecken, das Geschrei hatte mich ohnehin schon wach gemacht. Ja – ich hatte noch ein Gefäß mit Milch da stehen. Ja, ich gab sie Josef. Ja, ich habe die Milch auf die Rechnung gesetzt. Aber was ist daran unanständig? Ich musste ja auch dafür bezahlen. Mir schenkt auch keiner was.

Das hatte ich nun davon: Eine schlaflose Nacht, nächtliche Besucher mit verrückten Fragen, am Morgen dann maulende Gäste: „Bringen Sie doch mal Ruhe ins Haus!“, keine Milch mehr zum Frühstück und im Stall ein Paar mit einem Neugeborenen, das ich wohl nicht so schnell loswerden konnte. „Das nächste Mal bleibst du hart“, sagte ich mir. Man wird nur ausgenützt. Reichst du den kleinen Finger, nehmen sie immer gleich die ganze Hand. Ich habe doch Recht – oder?

Der Ärger ging noch weiter. Nach drei Tagen hatte die junge Familie kein Geld mehr. Zurückreisen konnten sie noch nicht, die Warteschlangen bei den Volkszählungsbüros waren endlos, und die Frau brauchte auch noch ein paar Tage, um nach der Anreise und der Geburt wieder zu Kräften zu kommen. Rausschmeißen konnte ich die drei jetzt auch nicht mehr wegen dem Kind, das hätte doch zu sehr meinem Ruf geschadet. Ein Neugeborenes kann man nicht auf die Straße setzen. Zum Glück stellte sich heraus, dass Josef Zimmermann war. So ließ ich ihn ein paar Balken an meinem Dach auswechseln – die Arbeit war ohnehin fällig. So kam ich auch noch billig an eine Reparatur. Wenn ich schon den Ärger habe, dann will ich wenigstens eine Entschädigung – wie jeder vernünftige Mensch.

Nach einer Woche reisten sie dann ab. Ich wusste, dass sie kein Geld mehr haben. Den Wert von Josefs Arbeit setzte ich so an, dass doch noch ein bisschen Schulden blieben. So konnte ich die Leute ein wenig erziehen: „Überlegt vorher, wie ihr eure Reisen bezahlen wollt.“ Josef hat mir dann die beiden Lämmer in Zahlung gegeben, und so kam ich dann doch noch zu einem kleinen Gewinn.

Jetzt sagt selbst: Bin ich ein Unmensch? Ich habe nur getan, was die meisten anderen an meiner Stelle auch getan hätten. Ich bin ein Geschäftsmann, nicht ein Wohlfahrtsverein. Ich habe Leistungen geboten und sie mir ordentlich bezahlen lassen. Ich bin doch ein normaler Mensch. Seid ihr so sicher, dass ihr euch anders entschieden hättet? Also sucht euch jemand anderen, wenn ihr einen Buhmann sucht für eure Adventsfeiern!

Drei Sachen muss ich noch kurz anfügen.

Das erste: Die junge Frau hat sich tatsächlich noch bei mir bedankt. Ich weiß jetzt, dass sie Maria heißt, und sie hat „Dank euch, guter Habakuk. Gott segne euch!“ zu mir gesagt. „Guter Habakuk“ – das war mir fast ein bisschen peinlich.

Das zweite: Als sich Maria und Josef verabschiedeten, da war mir, als sähe das Kind mir für einen Augenblick ganz fest in die Augen. Es war ein Blick, wie ich ihn nie gesehen habe und schon gar nicht bei einem acht Tage alten Säugling. Seine Augen schienen endlos in die Tiefe zu führen, und wie durch eine Höhle hindurch meinte ich, in diesen Augen ein überirdisches Licht glänzen zu sehen. Das war keine Einbildung. Ich sage es nur euch. Mit dem Kind ist vielleicht doch etwas Besonderes.

Und ein drittes. Vor meinem Stall stand einmal ein Granatapfelbaum. Der wurde von meinem Großvater gefällt, als ich noch ein Kind war. Er brachte keine Früchte mehr. Der Baumstumpf steht heute noch da. Gelegentlich nimmt ihn jemand als Hocker. Auch Maria hat sich an sonnigen Tagen darauf gesetzt und ihr Kind gestillt. Und ob ihr’s glaubt oder nicht: Ein paar Tage, nachdem die drei abgereist waren, sah ich einen jungen Trieb an dem Baumstumpf. Und ein paar Wochen danach hat der Zweig doch tatsächlich geblüht. Ist das Zufall? Ich weiß es nicht. Aber mir kam in den Sinn, was unser Prophet Jesaja einmal geschrieben hat:

Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor,
ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.

Der Geist des Herrn lässt sich nieder auf ihm:
der Geist der Weisheit und der Einsicht
der Geist des Rates und der Stärke,
der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht.

Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften,
Treue der Gürtel um seinen Leib.

Und ich frage euch, die ihr zweitausend Jahre nach mir lebt: Ist da wirklich aus diesem Kind, das in meinem Stall geboren wurde, etwas Großes geworden? War das wirklich der Messias, der Gesandte und Gesalbte Gottes, wie die Hirten meinten? Was meint ihr? Was wisst ihr? Was glaubt ihr?

Peter Wünsche, 10.12.2006


peter.wuensche@t-online.de

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