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Johannes

Johannes saß am Ufer. Vor ihm quälte sich müde der Fluss durch den Schlamm. Es war Oktober; die Hitze des Sommers hatte nachgelassen, aber der Regen des Winters stand noch aus. Der Fluss war nur noch ein trübes Rinnsaal, das nichts zu tun hatte mit der frischen Flut des Frühjahrs.

Johannes sah den herbstlichen Fluss als Gleichnis für sein Leben und dachte zurück. Da war ein froher Frühling gewesen. Johannes war der einzige Sohn seiner Eltern, die vom Alter her auch hätten seine Großeltern sein können. Da sie wussten, dass ihnen nicht viel Zeit blieb, gaben sie alles für ihren Sohn – gaben sie alles an Liebe, was sie geben konnten. Die Mutter Elisabeth konnte Johannes noch eine reiche Kindheit bereiten; sie starb, als Johannes gerade anfing, dem Kindesalter zu entwachsen. Der alte Vater Zacharias kümmerte sich von da an allein um seinen Sohn, und er machte das wirklich gut. Einen Monat im Jahr musste er als Priester Dienst im Tempel tun. Johannes durfte ihn dabei begleiten, seit die Mutter gestorben war – dreizehn Jahre war er damals alt. Er sollte eines Tages Priester werden wie sein Vater. Zum Priester wurde man als Sohn eines Priesters geboren im Volk Juda.

Der erste Besuch im Tempel war atemberaubend gewesen. König Herodes hatte das Haus Gottes prachtvoll erweitern lassen, ganz im Stil der großen Welt. Der Tempel stand in einer Reihe mit den großen Bauten der großen Nachbarvölker. Überall glänzte es von Marmor und Gold, ein schwerer Duft von Weihrauch hing über dem Gelände, die kunstvollen Gesänge der Leviten erklangen morgens und abends. Dutzende von Opfern wurden dargebracht im Lauf eines Tages. Johannes war überwältigt und hatte gespürt: Hier muss Gott ganz nahe sein.

Aber je älter Johannes wurde, desto mehr hatte sich seine Sicht des Tempels getrübt. Mit vierzehn Jahren erlebte er, wie ein blinder Bettler nicht in den Tempel gelassen wurde – er war aufgrund seiner Behinderung unrein und musste draußen bleiben wie ein Hund. Mit fünfzehn fing er an, die Machenschaften der Geldwechsler zu durchschauen: Die Tempelsteuer musste in einer alten Währung entrichtet werden, die im Alltag nicht mehr vorkam. Alle mussten ihr Geld wechseln – und den größten Nutzen hatten die Wechsler selbst. Mit sechzehn Jahren spürte er, dass es da einen großen Bruch gab: Die Priester und Lehrer am Tempel verkündeten Gottes Wort. Es gab unter ihnen viele wie seinen Vater, denen es ernst war. Aber da waren andere, die handelten ganz anders, als sie redeten. Eigentlich gab es keines unter den zehn Geboten, das von ihnen nicht gebrochen wurde. Das reichte tatsächlich bis zum Mord: Das begriff Johannes mit siebzehn Jahren. Denn die Hohenpriester zahlten für ihren Dienst einen hohen Preis. Der Tempel konnte nur aufrecht erhalten werden, wenn die obersten Vertreter der Priesterschaft mit den Römern zusammenarbeiteten. Echte oder auch nur vermeintliche Feinde der Römer mussten ausgeliefert werden, und die Römer kannten für solche Leute nur eine Strafe: den Tod am Kreuz. Johannes wusste, dass sein Vater sich von solchen Machenschaften fern hielt; er verriet nie einen Glaubensgenossen. Aber er konnte bei ihm nicht mehr lange Trost und Geborgenheit finden, denn als Johannes achtzehn Jahre alt geworden war, starb sein Vater Zacharias.

Johannes war nicht Priester geworden. Kurz bevor er zum ersten Mal Dienst tun sollte, tat er auch nach außen, was er innerlich längst vollzogen hatte: Er wanderte aus. Er zog sich ganz zurück. Aber es war nicht ein zielloser Rückzug, es war die Suche nach Gott. Im Tempel konnte er ihn nicht mehr finden. Dafür war der in den Augen des Johannes zu sehr beschmutzt. Johannes ging da hin, wo nach den uralten Erzählungen sein Volk zum ersten Mal Gott begegnet war: in die Wüste. Sieben Jahre hatte er als junger Mann in der Wüste gelebt, Heuschrecken, wilden Honig und andere Dinge gegessen, die nur mühsam zu gewinnen sind. Aber diese mühselige Sorge für sein Leben führte ihn an die Wurzel. Viel mehr als im Tempel fühlte er dort zwischen Schakalen und Geiern, zwischen unerträglicher Hitze und frostiger Kälte die Nähe Gottes. Er nahm sich Zeit für diese Erfahrung, er betete viel und horchte in den lautlosen Nächten auf die Stimme seines Herzens, ob sich ihm dort Gott mitteilte. Und Gott hatte geantwortet.

Johannes hatte den Entschluss gefasst, wieder unter die Menschen zu gehen. Aber er tat das nicht als wohlbestallter Priester. Er trat in ganz andere Fußstapfen: Er nahm die Worte der alten Propheten auf, wurde selbst ein Prophet. Und er war überzeugt, dass das sein Weg war. Johannes wurde deutlich: Ihr Schlangenbrut – das war eines seiner Lieblingsworte, die er den Priestern und Schriftgelehrten entgegen warf. Gott wird kommen, er wird Gericht halten; im Feuer wird eure falsche Welt verbrennen – und ihr Heuchler mit ihr zusammen.

Seine Reden hatten erst einmal Eindruck gemacht. Seine Worte waren nicht nur auf taube Ohren gestoßen. Viele waren gekommen, hatten mehr von ihm hören wollen. Und er hatte diese schöne Idee mit der Taufe gehabt – oder besser: Gott hatte sie ihm eingegeben. Um dem Feuer des Gerichts zu entgehen, ließ er die Leute im Fluss untertauchen, ließ sie als sündhafte Menschen symbolisch sterben, damit sie als neue, gereinigte Menschen wieder aus dem Wasser hervorkamen. Viele vollzogen die Taufe mit großem Ernst. Aber ebenso viele waren gekommen, hatte sich taufen lassen, waren zurückgegangen und hatten genauso weiter betrogen, gelogen und manchmal auch gemordet wie vorher. Je schärfer seine Worte wurden, desto erfolgloser schienen sie ihm. Und manche waren nur an den Fluss gekommen, um etwas Aufregendes zu sehen: einen Propheten, dessen Stimme den Mächtigen entgegendonnerte – eine Abwechslung, eine Sensation, mehr nicht. Das alles waren die Sommergewitter seines Lebens gewesen.

Und nun schien es ihm Herbst geworden zu sein im Leben des Johannes, obwohl er erst wenige Jahre über die dreißig war. Das Interesse der Leute hatte nachgelassen, sie suchten sich neue Neuigkeiten. Er wusste, dass die Mächtigen nach ihm fahndeten, denn er hatte sie scharf angegriffen. Er war seines Lebens nicht mehr sicher. Seine Energie war verbraucht – aber wirklich geändert hatte er nichts. Das trübe Rinnsal zu seinen Füßen war ein Bild seines Lebens. Bald könnte es ganz versiegen.

***

„Warum bist du so traurig?“

Johannes hörte hinter sich eine Stimme, die er kannte. Er musste sich gar nicht umdrehen, um zu wissen: Joschua war gekommen, die Griechen nannten ihn Jesus. Joschua war ein entfernter Vetter von ihm, aber viel näher als die lose Blutsverwandtschaft verband sie ein gemeinsamer Geist. Johannes war froh, dass gerade Joschua auftauchte. Die Nähe eines anderen Menschen hätte er jetzt nicht ausgehalten.

„Ich denke nach“, sagte Johannes. „Ich denke nach, ob das schon alles war. Manchmal fühle ich mich wie eine Lampe, die das Leben der Menschen durchleuchtet. Aber die Leute haben nur ein wenig am Licht gespielt. Und jetzt ist die Lampe am Verlöschen. Ich hatte gedacht, Gott greift ein, greift endlich ein mit seinem Gerichtsfeuer. Aber nichts ist geschehen. Ich habe die Menschen gewarnt, aber jetzt lachen sie über mich. Sie haben sich nicht geändert – außer einigen wenigen. Aber Gott lässt mich jetzt sitzen mit meiner Botschaft vom Gericht, vom Gericht, das nicht kommt.“

„Johannes, du hast getan, was du konntest“. So versuchte Joschua ihn zu trösten. „Du hattest deinen Ruf als Prophet, und du hast ihn bestens erfüllt.“

„Aber erfolglos.“

„Erfolg ist nicht der Name Gottes. Das ist das eine. Ein zweites kommt dazu: Du hast Recht mit deiner Meinung über die Menschen. Da ist viel Böses. Und da kommt ein drittes hinzu: Die Menschen brauchen Mahnungen und Warnungen, sie brauchen jemand, der sie immer wieder an Gottes Weisung erinnert, der ihnen immer wieder ihr Unrecht vorhält. Das hast du getan mit aller Kraft. Aber da ist ein viertes: Allein damit lassen die Menschen sich nicht verändern. Sie sind so tief in Schuld verstrickt, dass sie sich gar nicht selbst daraus befreien können.“

„Also lässt Gott den Menschen alles durchgehen? Kein Gericht? Ewiges Recht für die Verbrecher?“

Und Joschua antwortete: „Doch, ein Gericht kommt über die Menschen. Aber es wird anders sein, als du dir das vorstellen kannst.“

„Und wie soll dieses Gericht aussehen?“

„Gott selbst kommt unter die Menschen. Lebt als Mensch unter ihnen.“

„Und dann?“

„Er stellt sich ganz und gar auf die Seite der Armen und Kleinen, auf die Seite der Verfolgten und Unterdrückten. Und er wird den Weg ganz zu Ende gehen. Wenn es sein muss, wird er als Mensch unter Menschen den Tod der Menschen sterben, hingerichtet von den Mächtigen, mitsterbend mit den Armen und Wehrlosen. Und dann werden alle erkennen, was sie da angerichtet haben: Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben. – so steht es beim Propheten Sacharja. Das wird das Gericht sein: Das abgrundtiefe Erschrecken über die eigene Bosheit: Wir haben Gottes Sohn getötet. Keine Strafe von außen, kein Feuer und keine Wasserflut. Nur die Erkenntnis der eigenen Schuld – und das wird sie reinigen, mehr als Feuer und Wasser. Es wird ein Gericht der Liebe und des Erbarmens sein, und doch härter als alle äußeren Katastrophen. Und nach dem Schmerz der Reinigung wird die Welt anders sein: Gottes Reich wird kommen, das du verkündest, und das ich mit dir verkünde.“

„Aber dazu müsste Gott erst Mensch werden. Er müsste geboren werden, aufwachsen als Kind, auftreten als Prophet, sich an die Seite der Kleinsten stellen. Wann soll das …“ Johannes brach mitten im Satz ab. Wie vom Blitz getroffen schwieg er lange Zeit und sah Joschua in die Augen. „Bist du dieser Mensch?“

Joschua lächelte und sagte nichts. Worte waren gar nicht mehr nötig. Johannes hatte begriffen.

Kurz vor seinem Tod sagte Johannes über Jesus: „Er ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt.“

Und als Johannes gestorben war, treu seiner Botschaft und ermordet von den Mächtigen, sagte Joschua – sagte Jesus über ihn: „Unter den Menschen gab es keinen Größeren als Johannes den Täufer.“

 

Peter Wünsche, 7.12.2008

 


peter.wuensche@t-online.de

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