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Ein Stern

Gethaspa schaute zum Himmel. Das tat er Tag für Tag, denn das gehörte zu seinen Aufgaben. Er schaute zum Himmel und konnte ihn lesen wie ein Buch. Viele Jahre täglicher Übung hatten ihn verständig werden lassen. Jetzt war er ein Mann von etwa 50 Jahren, galt als erfahren, galt gar als weise. Er gehörte zu den obersten Hofbeamten, trug mit Stolz den Titel Magus – war Priester und Wissenschaftler, Zukunftsdeuter und Ratgeber zugleich. Aber noch war er nicht so alt, dass er nicht noch nach Neuem gesucht hätte. Er tat seinen Dienst mit Eifer und Zuverlässigkeit, und er wurde gut bezahlt. Aber manchmal beschlich ihn das Gefühl: Das kann noch nicht alles gewesen sein.

Gethaspa las am Himmel ab, was für sein Volk wichtig war. Er hatte gelernt, aus der Form der Wolken und ihrem Dahinziehen das Wetter einzuschätzen. Er beriet den König, wann es Zeit war, die Aussaat anzuordnen und die Ernte. Er hatte gelernt, aus dem Flug der Vögel gute und böse Vorzeichen zu entnehmen. Und er hatte seine Leidenschaft für den nächtlichen Himmel entdeckt. Die Sterne waren für ihn wie gute Bekannte. Er wusste, dass da ungefähr 2000 Sterne am Nachthimmel sichtbar waren. Die größeren von ihnen trugen Namen, seltsame Namen wie Mizar und Beteigeuze, Alnitak und Mintaka. Aber Gethaspa hatte in ungezählten Nächten auch den kleineren Sternen Namen gegeben, jeden der 2000 Sterne kannte er wie einen Freund.

Doch die Sterne blieben geheimnisvoll und rätselhaft. Er wusste, dass sie meist schwiegen. Die Fixsterne nahmen Tag für Tag dieselbe Bahn. Die sieben Planeten zogen am Himmel seltsame Schleifen, aber Gethaspa hatte gelernt, ihren komplizierten Lauf zu berechnen – da gab es keine Überraschungen mehr. Nur ganz selten tat sich etwas wirklich Neues am Himmel, mit dem er nicht gerechnet hatte. Da trat ein Komet auf wie aus dem Nichts, leuchtete für ein paar Wochen hell vom Himmel und verschwand wieder. Nur dreimal in seinem Leben hatte er einen Kometen beob­achten können. Und ganz selten wurde ein neuer Stern sichtbar, der dauerhaft blieb. Das kannte er aber nur aus den Erzählungen der Alten.

Gethaspa schaute zum Himmel. Etwas war anders als sonst. Das beunruhigte ihn. Er ging im Geist die Liste der Sterne durch, die in seinem Gedächtnis tief eingeprägt war. Aber da war heute ein Stern am Himmel, für den er keinen Namen hatte. Er stand im Sternbild Stier, nahe dem hellen Aldebaran. Er war nicht besonders groß oder auffällig. Aber für einen Weisen und Kenner wie Gethaspa war er nicht zu übersehen. Er blieb bis lange wach, der Stern war weiter da und auch in der nächsten und der übernächsten Nacht.

Gethaspa war verunsichert. Es zog alle Sternkarten zu Rate, die er in der großen Bibliothek fand. Aber auf keiner war der Stern eingezeichnet. Er hatte sich nicht getäuscht. Da war ein neuer Stern, zum ersten Mal in seinem Sterndeuterleben hatte er so etwas beobachtet. Und er stellte sich die nächste Frage: Was hatte das zu bedeuten?

Er verbrachte in den nächsten Tagen jede freie Minute in der Bibliothek, um auf seine Frage eine Antwort zu finden. Aber da neue Sterne etwas so sehr Seltenes waren, gaben ihm die Bücher dabei kaum Hilfe. Vieles musste er sich selbst zusammenreimen. Er bekam heraus: Das Sternbild Stier deutete auf das Land Palästina, wo man früher der stiergestaltigen Gott Baal verehrt hatte. Der neue Stern stand wohl für eine Geburt eines Königs – aber nicht irgendeines Königs, sondern eines besonderen Menschen, der für die ganze Welt von Bedeutung war. Ein Mensch war da geboren, der eine einmalige Beziehung zu hatte einem Gott – oder zu dem einen Gott.

Das reimte sich Gethaspa zusammen. Es war nicht viel. Aber es war für ihn wie eine Erleuchtung: Hier ist vielleicht der neue Herr der Welt geboren. Ich habe seinen Stern entdeckt. Ich will unter den ersten sein, die ihm die Ehre erweisen. Nie mehr in meinem Leben wird diese Chance kommen. Nie mehr werde ich Gott so nahe kommen. Ich muss aufbrechen. Das ist mein Stern. Das ist mein König. Da ist vielleicht sogar mein Gott. Ich muss eine Reise machen.

Zweifel kamen, als er von der Sache den anderen Sterndeutern erzählte. Keiner teilte seine Begeisterung.

Einer sagte: „Ein neuer Stern – das glaube ich nicht. Ich sehe da bloß einen Stern unter andern. Vielleicht sind aber bloß unsere Karten falsch. Sie sind ja schon uralt.“

Ein anderer sagte: „Ja, ich sehe den Stern auch. Deine Deutung ist vielleicht richtig, aber vielleicht auch ganz irrig. Willst du eine lange Reise machen und am Ende feststellen, dass sie umsonst war?“

Einer weigerte sich, den Stern zu sehen. „Da ist gar nichts“, sagte er gegen den Augenschein.

Ein anderer sagte: „Ich teile deine Deutung des neuen Sterns. Aber eine so weite Reise – das wäre mir zu anstrengend und zu teuer und vor allem zu gefährlich. Ich ginge ein solches Risiko nicht ein.

Einer der Klügsten sagte: „Palästina, da herrscht doch dieser Herodes. Der nennt sich nur König, der hat gar nichts zu sagen ohne die Römer; die dulden ihn nur. Wenn der einen Sohn hat, dann wird der bestimmt nicht der Herr der Welt.“

Gethaspa war sich nicht mehr so sicher. Dennoch beschloss er, zu seinem Herrn zu gehen und um Urlaub zu bitten. Dem König gefiel gar nicht, was Gethaspa wollte. Er wollte nicht den wertvollsten seiner Berater einfach ziehen lassen. Und er setzte ihn unter Druck: „Ich muss mich wundern. Ich dachte, du stehst zu mir. Und jetzt willst du einem fremden Königssohn huldigen? Was ist mit deiner Loyalität?“ Zumindest sagte er kein klares Nein und gab Gethaspa die Möglichkeit, sein Ansinnen bis zum nächsten Tag zu überdenken.

In der nächsten Nacht ging Gethaspa nicht schlafen. Solang der neue Stern am Himmel stand, blickte er nach oben, unsicher, was er tun sollte. Der Himmel schwieg, der Stern schwieg. Als Mitternacht längst vorüber war, wollte er dann doch noch etwas ruhen.

Aber was war das? War er in seinem Beobachtungsstuhl kurz eingeschlafen und hatte geträumt? Hatten seine übermüdeten Augen gezittert, so dass der Himmel sich zu bewegen schien? Oder hatte sich der Stern wirklich bewegt? Aber es war für ihn ganz klar zu sehen gewesen. Er hatte sich bewegt in einigen kurzen Zügen, wie Buchstaben. Es waren die Buchstaben des persischen Wortes „komm“. Ja, das war die Botschaft; Traum oder Sinnestäuschung oder Wirklichkeit, das war jetzt ganz gleich. „Komm“ – das war kein Befehl. „Komm“, das war eine Einladung, ein Locken, eine Herausforderung.

Gethaspa ging zum König. Er bat nochmals um den Urlaub, nun ganz selbstsicher, und wegen seiner Verdienste bekam er ein halbes Jahr frei für seine Reise. Als Huldigungsgabe nahm er eine ganze Kamelladung Weihrauch mit – auch für ihn als hohen königlichen Hofbeamten ein kleines Vermögen. Aber für einen göttlichen König erschien ihm genau das angemessen. Er stieg auf sein Kamel, zog mit drei Dienern nach Westen und wusste: Das ist jetzt mein Weg. Das ist jetzt mein Leben.

Unterwegs traf er zwei andere Sterndeuter, Magier wie er, aus den Nachbarländern. Der alte, fromme Melichior zog mit großem Gefolge, wurde selbst sogar von einem Elefanten getragen. Der junge, abenteuerlustige Bithisarea war ganz allein unterwegs auf einem schwarzen Pferd. Das Zusammentreffen war für Gethaspa die letzte Bestätigung – aber sie war eigentlich gar nicht mehr nötig.

Wie die Geschichte weitergeht, hat Matthäus aufgeschrieben, das ist bekannt, das muss ich hier nicht weiterspinnen. Aus dem Namen Gethaspa wurde im Lauf der Überlieferung Kaspar, aus Bithisarea wurde Balthasar, und Melichior verlor ein „i“ in seinem Namen. Kaspar, Melchior und Balthasar, so kennt sie heute jedes Kind. Drei Männer, die eine weite Reise machten.

So könnte es gewesen sein. Vielleicht war es auch ganz anders. In einem äußeren Sinn ist die Geschichte vielleicht wahr oder auch nur erfunden. Wahr ist aber eines: Immer wieder finden Menschen ihren Stern. Immer wieder finden Menschen Herausforderungen, die genau die Ihre sind. Immer wieder gehen Menschen neue Wege. Immer wieder stoßen sie auf Unverständnis.

Manche gehen los und kehren schnell wieder um. Manche gehen los und kommen nie an und spüren doch, dass der Weg nötig war. Manche gehen los und kommen anderswo an, als sie planten. Und so erfahren sie, dass allein Gott lenkt. Gethaspa und die anderen Magier aus dem Osten fanden das Kind nicht im Palast bei Herodes in Jerusalem, sondern im kleinen Bethlehem, als Sohn eines Zimmermanns und seiner Frau. Und auf einem anderen Weg kehrten sie zurück, reich und verwandelt.

 


Peter Wünsche, 6.12.2009

peter.wuensche@t-online.de

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