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Noch 24 Stunden

Der 23. Dezember ging bald zu Ende. Der Pfarrer hatte am Vormittag zwei Schulgottesdienste geleitet – sehr erfreulich war das nicht gewesen. Die Kinder hatten mehr die beginnenden Ferien als den Advent im Kopf. Es war ihm kaum gelungen, die Kinder wirklich für den Gottesdienst zu interessieren. Es war unruhig gewesen und wenig feierlich.

Am Nachmittag und am frühen Abend hatte der Pfarrer ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Hause besucht, einen kleinen Blumenstock abgegeben, eine Karte und ein „Vielen Dank“ – aber er war kaum mit jemandem richtig ins Gespräch gekommen; alle waren in der Küche mit Kochen und mit Christbaumschmücken im Wohnzimmer beschäftigt gewesen.

Jetzt war es gegen 9 Uhr abends. Der Pfarrer saß am Schreibtisch, wollte endlich mit seiner Weihnachtspredigt beginnen. Aber er fand keinen Anfang. Ideen hatte er schon, aber sie kamen ihm alle irgendwie schwach und kraftlos vor. Der wenig erfreuliche Tag war keine gute Grundlage für eine Weihnachtspredigt. Aber da war mehr – schon seit einigen Jahren und verstärkt in den letzten Monaten hatte er Zweifel, ob all das, was er tat, so ganz sinnvoll war.

Weihnachten, das war doch nur noch ein großes Geschäft und eine große Show. Ganz typisch: Dieses Jahr waren Mädchen im Minirock und weiß-roter Zipfelmütze der große Werbegag gewesen, mindestens fünf Firmen hatten damit geworben: Weihnachtsmädchen als Abklatsch vom Weihnachtsmann, der doch selbst wieder nur eine schlechte Kopie vom Nikolaus war. Das war heute Weihnachten. Das gefiel den Leuten. Geschäft und billige Unterhaltung, darum ging es – aber doch schon lange nicht mehr um die Geburt in Bethlehem.

Eigentlich hatte es keinen Zweck, die Sache weiter hinauszuschieben. Wenn er die Predigt nicht bis Mitternacht fertig hatte, würde er zu müde sein, noch etwas Vernünftiges zustande zu bringen. Morgen, am Heiligen Abend, war dazu kaum mehr Zeit. Aber hier am Schreibtisch zu sitzen und auf einen Einfall zu warten – das war auch nicht die Lösung.

„Ich gehe ein bisschen an die Luft“ – so sagte er sich, „vielleicht fällt mir da etwas ein.“ Er nahm seine Winterjacke und ging nach draußen. Es war ziemlich still auf den Straßen. Viele Fenster waren erleuchtet, die meisten Leute schienen daheim zu sein. Seine Schritte lenkten ihn fast unmerklich zu einer kleinen Eckkneipe, wo er gelegentlich mal ein Bier oder einen Schoppen Wein trank. Es waren heute Abend nur wenig Leute da. So stand er mit seinem Bier allein am Tresen, horchte ein bisschen auf die weihnachtlich angehauchte Popmusik aus dem Radio. Die brachte ihn aber auch nicht in Weihnachtsstimmung, es war einfach nicht sein Geschmack.

Als er sich umsah, saß da neben ihm ein Fremder auf dem Barhocker. Er hatte gar nicht bemerkt, wie der hereingekommen war. Und seltsamerweise sprach ihn der Fremde an:

„Dir geht’s nicht so gut, oder?“

„Wie kommst du darauf?“, fragte der Pfarrer verwundert zurück.

„Ich brauche bloß in dein Gesicht zu schauen“, erwiderte der Fremde.

Merkwürdig, nach ein paar Sätzen waren sie mitten in einem Gespräch. Der Fremde schien sich in Kirchensachen ganz gut auszukennen – ob es ein Kollege von auswärts war? Egal, mit jemandem zu reden tat gut.

„Und da sitze ich hier und trinke mein Bier,“ sagte der Pfarrer. „Morgen werde ich dann in der Mette vor einer gut gefüllten Kirche predigen. Aber ich mache mir nichts vor. Drei Viertel der Leute werden über sechzig sein. Viele kommen nur, weil sie die Stimmung suchen – nicht etwa die Weihnachtsbotschaft. ‚Stille Nacht’ am Ende mit Lichter aus und solchem Zauber – manche mögen das. Also tue ich ihnen den Gefallen. Aber was ich predige, ist den meisten doch egal, solange es nicht über zehn Minuten dauert. Fünf Minuten wären natürlich noch besser. Und ob da viele im Gottesdienst wirklich beten – ich weiß es nicht. Die wollen doch bloß gesehen werden.“

„Komm mal mit, ich zeige dir was“, sagte der Fremde. Das Bier war ohnehin ausgetrunken, sie zahlten und gingen hinaus in die Nacht.

„Siehst du das Fenster dort drüben mit den gehäkelten Gardinen?“, fragte der Fremde. „Da wohnt Frau Berger. Sie ist seit 15 Jahren Witwe, und ihre Kinder wohnen weit weg. Auch morgen wird sie allein sein. Aber sie wird in die Christmette kommen, wie jedes Jahr. Letztes Jahr stand ich nach der Mette hinter ihr. Sie hat wahrscheinlich von deiner Predigt nicht alles verstanden, die war ein bisschen zu hoch. Aber sie hat nach der Mette zu ihrer Nachbarin gesagt: ‚Jetzt weiß ich wenigstens, wozu ich noch lebe.’“

„Das hast du gehört?“, fragte der Pfarrer.

„Ja, genau das hat sie gesagt.“

Sie gingen ein paar Straßen weiter. In einem Hauseingang standen eng beieinander ein Junge und ein Mädchen, beide so um die 17 Jahre alt. „Da schau her“, sagte der Pfarrer zu dem Fremden, „die Silke mit ihrem Freund. Letztes Jahr hat sie zu Weihnachten noch ministriert, aber seit Januar oder Februar habe ich sie nicht mehr in der Kirche gesehen. Ich hatte große Hoffnungen in sie gesetzt, hatte geglaubt, sie wird die Kindergruppe in der Pfarrei übernehmen. Aber sie ist jetzt weit weg – wie viele in ihrem Alter.“

„Aber nicht ganz. Sie hat ein Geheimnis. Vor zwei Jahren hat deine Weihnachtspredigt sie angesprochen. Du hast erzählt, wie Gott Zeit für uns Menschen hat, und dass auch wir Zeit füreinander haben sollen. Sie hat das ernst genommen. Seither nimmt sie sich jeden Monat einen Nachmittag Zeit für ihren Großvater, der als Alzheimerpatient im Pflegeheim lebt. Und sie hält das bis heute durch.“

„Das wusste ich nicht“, sagte der Pfarrer.

„Sie erzählt auch niemandem davon. Ich weiß es sozusagen bloß zufällig.“

Sie näherten sich langsam der Kirche. Aus der Erdgeschosswohnung in einem Mietshaus drangen Schüsse nach außen – Schüsse aus einem Fernseher. Da lief ein Kriegsfilm mit voller Lautstärke. Anders als bei den anderen Wohnungen war hier keine Spur von Weihnachtsschmuck zu sehen.

Der Fremde erklärte: „Da wohnt Herr Huber. Leute, die sich Christen nennen, haben ihn fies behandelt, leider auch die Familie seiner Frau. Er ist geschieden. Seine Abende verbringt er meist mit dem Anschauen von Actionfilmen, auch den Heiligen Abend. Er will eigentlich mit Christsein nichts mehr zu tun haben. Aber letztes Jahr hatte er beim Läuten der Glocken vor der Mette schon seinen Mantel in der Hand. Er hat ihn wieder hingehängt und den Fernseher nicht ausgeschaltet. Vielleicht zieht er den Mantel dieses Jahr an. Vielleicht kehrt er auf halbem Weg wieder um und kommt erst nächstes Jahr. Aber ein Funke ist noch da, und Weihnachten ist trotz allem stark genug, diesen Funken wieder aufleben zu lassen.“

Sie hatten das Pfarrhaus fast erreicht. Der Fremde deutete auf den oberen Teil eines Hochhauses. „Da im 14. Stock wohnen Herr und Frau Bichler. Im Lauf von 35 Ehejahren sind sie sich ein bisschen fremd geworden. Sie werden langsam alt und gehen sich manchmal ziemlich auf die Nerven. Manches ist da sehr kühl. Morgen Abend werden sie wie immer zusammen zur Mette gehen, mehr aus Gewohnheit denn aus Überzeugung. Sie werden nebeneinander sitzen. Du wirst ihnen von Gottes Liebe zu uns Menschen predigen. Und wenn am Ende das Licht zur ‚Stillen Nacht’ ausgeht, wird sie nach seiner Hand fassen, und er wird sie nicht zurückziehen. – Übrigens: Was du predigst, ist gar nicht so furchtbar wichtig. Tue es aufrichtig, und nimm die Menschen, die dir da gegenübersitzen ganz ernst, und nimm die Botschaft ernst von Gott, der uns Menschen unendlich liebt.“

„Sag’ mal, wer bist du eigentlich?“, fragte der Pfarrer.

„Ich glaube, du ahnst es schon“, sagte der Fremde.

„Dich schickt der Himmel?“

„Ja, gewiss“, antwortete der Fremde. Er breitete seine Flügel aus und flog davon. Nur noch ein schwacher Lichtschein am Himmel blieb für ein paar Minuten zurück.


Peter Wünsche, 7.12.2003

peter.wuensche@t-online.de

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