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Vater und Sohn

Wie es gewesen sein könnte:

Es war der Tag genau 21 Jahre nach jener denkwürdigen Nacht in Bethlehem. Josef, Maria und Jesus waren wie immer in der Morgendämmerung aufgestanden, hatte zusammen das Morgengebet verrichtet und eine Kleinigkeit gegessen. Und wie immer ging Josef mit Jesus in die Werkstatt. Aber Josef griff nicht zum Hammer und nicht zur Säge. Er öffnete das Schreibpult, nahm einen Stapel zusammengehefteter Pergamentblätter heraus und drückte ihn Jesus in die Hand.

„Mein Sohn“, sagte er, „nach unseren Bräuchen und Gesetzen bist du mit dem heutigen Tag  mündig. Ich lege dir diese Papiere in die Hand. Du kennst sie. Es ist unser Auftrags- und Rechnungsbuch. Es liegt jetzt in deiner Hand. Du hast sieben Jahre lang bei mir unser Handwerk gelernt. Aber in den letzten zwei Jahren war das schon keine richtige Lehre mehr. Du hast mir tatkräftig geholfen. Du kannst jetzt alles, was ich auch kann. Ich übergebe dir mit diesem Buch auch die Verantwortung. Mit dem heutigen Tag gehört unsere kleine Zimmermannsfirma dir.“

„Vater, traust du mir das wirklich zu?“, fragte Jesus, „und was willst du jetzt tun?“

„Du weißt, dass ich langsam alt werde“, antwortete Josef. „Meine Kräfte lassen nach. Ich werde dir noch helfen, so gut ich kann, ein paar Jahre noch wird mir Gott schon schenken. Aber das hier ist jetzt dein Geschäft, und ich weiß, dass du es gut führen kannst. Du wirst es weiter ausbauen, wirst eine Familie gründen, die nicht reich sein wird, aber ganz gut im Wohlstand leben kann.“

Lange schwieg Jesus. Er dachte nach. „Vater“, so sagte er dann einfühlsam, „Vater, das sind deine Pläne. Sie sind gut. Sie sind aus Liebe und Vertrauen gewachsen. Aber da ist noch etwas.“

Josef stutzte. Sollte er irgendetwas nicht bedacht haben? War ein Fehler in seinen Plänen? „Sprich, mein Sohn“, sagte er.

„Vater, ich fühle, dass all das auf Dauer nicht meine Berufung ist. Es ist schön übersichtlich hier in Nazareth. Aber wir kommen ja viel auf verschiedenen Baustellen in anderen Orten herum. Da sehen wir Elend: unendlichen Reichtum neben bitterer Armut, Menschen, die ausgenützt werden, Menschen, die keine Hoffnung haben, Menschen, die an den Menschen und dadurch auch an Gott verzweifeln. Wir sehen Ungerechtigkeit und Hartherzigkeit bis zum Hass. Viele haben Gottes Gebote vergessen. Viele haben Gott selbst vergessen. Das kann doch nicht so bleiben.“

„Und du, Jesus, willst dagegen etwas tun? Das ist unendlich mühsam. Das ist gefährlich, das kostet Kraft und vielleicht sogar dein Leben.“

„Vater, ich will nicht nur – ich muss etwas tun. Ich kann die Menschen nicht einfach in ihren Untergang laufen lassen. Ich muss ihnen Gottes Wort verkünden. Dazu bin ich berufen, ich fühle da ganz sicher.“

„Jesus, ich habe so etwas fast befürchtet“, sagte Josef leise. „Du wurdest geboren vor 21 Jahren – ich war dein Vater und war es doch nicht, es war geheimnisvoll. Ein Engel sagte mir im Traum, dass ich dich als Sohn annehmen soll. Ich tat es gläubig, ohne zu wissen, was kommt. Und damals im Tempel, du warst gerade zwölf, hast du mich erschreckt mit deinem Wort: ‚Ich muss im Haus meines Vaters sein.‘ Mit ‚Vater‘ meintest du Gott – nicht mich.“

„Ich wollte dir keine Angst machen. Aber ganz tief drinnen fühle ich, dass ich ganz und gar zu Gott gehöre, dass ich sein Kind, sein Sohn bin, mehr und anders als andere Menschen. Und ich weiß, dass ich von Gott einen Auftrag habe, dem kann ich gar nicht entkommen.“

Und Josef sagte: „Ich weiß es. Ich glaube, dass du Gott gehörst. Ich mache mir nur Sorgen um Maria. Wenn du weggehst – wer soll dann für sie sorgen?“

„Gott wird sorgen. Davon bin ich fest überzeugt. Aber ich spüre auch: Noch bin ich zu jung, um Prophet zu sein. Ich brauche noch einige Zeit, bis ich alt genug bin und ganz ernst genommen werde. Ich brauche noch einige Jahre Lebenserfahrung. In dieser Zeit kann ich durch die Arbeit meiner Hände unser Vermögen noch vermehren, so dass Maria dann davon leben kann. Aber es wird schwer werden, auch für sie. Doch wenn Gott Menschen braucht, darf es kein Nein geben.“

Beide schwiegen. Josef spürte: Seine eigenen Pläne waren gut, aber Gottes Pläne waren stärker. Jesus würde Prophet sein, wenn die Zeit dafür gekommen war. Er würde den Weg eines Propheten gehen. Er würde vielleicht das Schicksal eines Propheten erleiden. Aber Josef wusste: Mein Sohn gehört nicht mir. Er gehört Gott. Und wieder sagte Josef Ja – Ja aus Glauben.

So könnte es gewesen sein. Ob es so war – wer will das so genau wissen? Aber dass Josef so war – glaubend, mutig, ganz auf Gottes Pläne vertrauend, das wissen wir und zählen ihn unter die Väter des Glaubens.


Peter Wünsche, 18.12.2016

peter.wuensche@t-online.de

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