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Verschwunden

Es war Freitag, der 21. Dezember, nachmittags um vier. Mesner Franz Müller sperrte seine Sakristei auf. Er liebte es, immer ein bisschen früher da zu sein. Er liebte seine Kirche Sankt Mauritius, gerade wenn es noch still in ihr war. Mesner Franz tat seinen Dienst schon über 50 Jahre lang. Es war nicht sein Hauptberuf, er hatte das Mesneramt immer nebenamtlich ausgeübt. So furchtbar viel war nicht zu tun in der Pfarrei mit 1500 Menschen in einem Marktflecken irgendwo in Süddeutschland. Jetzt war er ein Rentner, immer noch rüstig und frisch genug für wöchentlich acht Stunden Dienst in der Sakristei.

Eine Viertelstunde später trafen die ersten Kinder ein, dazu auch Frau Maier, die sich seit einigen Jahren um die Kindergottesdienste kümmerte. Die Kinder, das waren zum Krippenspiel immer die Dritt- und Viertklässer, die am Heiligen Abend den Kleineren das Geschehen um die Geburt Jesu vor Augen stellten. Um halb fünf sollte die Generalprobe für das Spiel beginnen. Die Kinder waren alle gut aufgelegt, weil ein paar Stunden vorher die Weihnachtsferien begonnen hatten. Und die Kinder, auch ein bisschen aufgeregt, gingen noch einmal zu zweit oder zu dritt ihre Texte durch. Um die Stille war es geschehen.

Mesner Franz war stolz, dass seine Enkelin Klara schon zum zweiten Mal mitspielte, letztes Jahr als Hirtenmädchen, jetzt in einer Hauptrolle als Verkündigungsengel. Und Müllers Enkel Johannes, Klaras Bruder, zugleich Oberministrant, aber mit vierzehn Jahren schon viel zu alt zum Mitspielen, war als Beleuchter eingesetzt und kümmerte sich um die Technik.

Bisher hatten die Kinder mit Frau Maier immer im warmen Pfarrheim geprobt, das jetzt war die letzte Probe mit den richtigen Gewändern und allen Dingen, die man für das Spiel so brauchte. Die leere Krippe vor dem Altar hatte Mesner Franz schon am Vormittag aufgestellt und mit Stroh gefüllt. Die Vorbereitungen nahmen doch um die zwanzig Minuten in Anspruch, bis alle Gewänder saßen, alle Gegenstände ausgeteilt waren und jeder seinen Platz zugewiesen bekam. Frau Maier hatte einige Mühe, in den quirligen Haufen Ruhe zu bringen, damit man konzentriert proben konnte. Dann war es so weit, dass man anfangen konnte.

Aber Klara sagte: „Halt, das Wichtigste fehlt noch. Wir haben das Jesuskind noch nicht.“ Das Jesuskind, das war eine wertvolle geschnitzte Holzfigur, ungefähr 150 Jahre alt, beinahe so groß wie ein richtiges neugeborenes Kind. Es verbrachte fast das ganze Jahr in einem stabilen Karton, der mit Seidenpapier ausgepolstert war. Und der Karton lag in einer großen Schublade in der Sakristei. Mesner Müller gab die Figur immer erst heraus, nachdem alles andere vorbereitet war, damit im Trubel nichts an der Figur kaputt ging. Er sagte zu seiner Enkelin: „Ja, Klara, komm mit in die Sakristei, ich gebe dir das Jesuskind. Sei aber ganz vorsichtig damit!“ Er öffnete die Schublade, und Klara nahm den Deckel von dem Karton ab. Da war ein Nest von feinem, sauberen Seidenpapier – und sonst nichts.

Klara wurde bleich und ihr Großvater noch bleicher. Das Jesuskind war verschwunden. Einfach spurlos weg. Wie konnte das sein? Mesner Müller ging die Möglichkeiten durch: Er selbst hatte das Kind nicht. Dem Aushilfsmesner konnte man auch trauen, dem Pfarrer sowieso. Und auch den Frauen, die immer am Freitagvormittag die Kirche putzten, traute er keinen Diebstahl zu.

Sein erster Verdacht war: Das war ein Streich der Ministranten. Um ihn nicht bloßzustellen, rief er seinen Enkel in die Sakristei und schickte Klara mit leeren Händen in die Kirche zurück: „Sag mal, habt ihr Ministranten das Jesuskind versteckt“?“ Aber Johannes sagte: „Nein, Opa. Das wäre zwar mal eine Idee, um dich zu erschrecken. Aber wir haben da gar nichts gemacht. Ich habe keine Ahnung, wo das Jesuskind ist. Die Schachtel bleibt doch das ganze Jahr zu.“

„Diesmal anscheinend nicht“, gab der Mesner zurück. Aber er wusste: Sein Enkel und seine Freunde machten zwar manchen Unsinn, aber lügen würde er jetzt nicht. Dafür war die Sache zu ernst.

Zum Glück geriet Mesner Franz nicht in Panik. Als erstes ging es darum, die Probe sicherzustellen. Er sprach kurz mit Frau Maier, und die stimmte zu, wenn auch nicht ganz glücklich, wie in den vergangenen Proben eine zusammengerollte Decke als Andeutung für das Kind zu nehmen. Müller versprach den Kindern: „Am Montag, am Heiligen Abend werdet ihr ein schönes Kind haben.“

Schritt zwei der Krisenbewältigung war der Pfarrer. Müller rief ihn an und sicherheitshalber auch den Kirchenpfleger und die Vorsitzende des Pfarrgemeinderats dazu. Innerhalb von zwanzig Minuten kam die kleine Krisensitzung zusammen. Die Stimmung war nicht schön. Die wertvolle Jesusfigur verschwunden, so kurz vor Weihnachten, das war mehr als ärgerlich. Zu viert suchten sie noch einmal die Sakristei ab – aber ohne Erfolg. Keiner hatte die geringste Ahnung, was man noch tun konnte. Für die Polizei war es noch zu früh, vielleicht gab es ja eine einfache Lösung, an die bloß gerade niemand dachte. Der Kirchenpfleger schlug vor, schnell noch auf dem Weihnachtsmarkt ein neues Jesuskind zu kaufen, aber den anderen gefiel das gar nicht – eine halbwegs schöne lebensgroße Figur, wenn überhaupt, dann bekam man die nicht unter 1000 Euro. Die wollte der Pfarrer nicht ausgeben, bevor feststand, dass die alte Figur wirklich endgültig weg war.

Der Pfarrer schlug vor: „Ersatzweise könnten wir ja das Evangelienbuch in die Krippe legen. Gottes Wort ist Mensch geworden. So steht es doch im Johannesevangelium.“ Aber die anderen waren dagegen: „Das verstehen vielleicht die Erwachsenen, aber für das Krippenspiel ist das nichts.“ Etwas ratlos ging man wieder auseinander. Mesner Franz versprach, noch einmal genau nachzusuchen.

Die Probe war inzwischen zu Ende, die meisten Kinder heimgegangen. Johannes und Klara gingen noch einmal in die Sakristei. „Opa, brauchst du uns noch? Können wir noch etwas helfen?“

Und Mesner Franz hatte eine Idee. Er fragte Klara: „Könnten wir nicht eine große Puppe von dir haben, die diesmal das Jesuskind spielt?“ Klara war leicht entsetzt. „Opa, ich werde im Januar schon zehn. Da spielt man doch nicht mehr mit Puppen. Wir haben letztes Jahr alle meine Puppen zu meiner kleinen Cousine an die Nordsee geschickt. Ich habe keine mehr.“ Mesner Franz war etwas verlegen. „Entschuldige bitte, als Großvater vergisst man immer wieder, wie groß die eigenen Enkel schon sind.“ „Schon gut“, sagte Klara, „mir fällt da aber noch etwas ein. Eine Puppe haben wir nicht mitgeschickt, die war schon ein bisschen stark abgenutzt, ich könnte auch sagen: abgeliebt. Die könnte passen“.

„Na prima“, sagte Franz, „aus Liebe abgenutzt macht gar nichts, denn Jesus kommt ja auch als Kind in großer Liebe in die Welt."

„Ist gut“, sagte Klara. „Ich bringe die Puppe am Heiligen Abend mit.“ Froh, wenigstens eine Notlösung gefunden zu haben, gingen Großvater und Enkel auseinander. Aber im Weggehen entdeckte Franz in Klaras Augen ein Lächeln, das er schwer deuten konnte. Irgendetwas Besonderes hatte sie vor.

Das vierte Adventswochenende ging ohne weitere Vorfälle vorüber, Franz hatte nicht viel Zeit, nach dem Kind zu suchen. Und er fand es tatsächlich nicht. Er machte sich nur etwas Sorgen: Sollte jetzt mit 72 Jahren sein Gedächtnis schon schlapp machen? Sollte er selbst die Jesusfigur verlegt haben und sich nicht erinnern?

Und dann war es Heiliger Abend, vier Uhr nachmittags. Wieder füllte sich die Kirche mit Kindern, diesmal viel mehr, auch viele kleine und deren Eltern. Um halb fünf sollte die Kinderkrippenfeier beginnen. Auch Klara war wie vereinbart pünktlich um vier Uhr da, und sie übergab ihrem Opa Franz eine Tasche, dabei wieder ein seltsames Lächeln in den Augen. Franz rief Frau Maier zu sich, um das Aushilfsjesuskind zu begutachten. Gemeinsam öffneten sie die Tasche. Da lag das Kind, die geliebte Puppe von Klara: Fast lebensgroß mit weit offenen dunklen Augen. Die Haare waren ziemlich zerzaust, die Haut stark verkratzt, an einer Stelle am Bauch klaffte ein kleines Loch. Das linke Bein baumelte lose herum, nur noch durch einen Faden mit dem Körper verbunden. Und das Kind hatte dunkle, fast schwarze Haut. Früher hätte man so etwas „Neger-Babypuppe“ genannt. Heute sagt man so nicht mehr, weil „Neger“ kein schönes Wort ist. Aber erschrocken waren doch alle, die da standen: Opa Franz, Frau Maier und die anderen Hauptrollenkinder des Krippenspiels. Konnte man das machen: eine dunkelhäutige, abgenutzte, mehrfach heftig beschädigte Puppe als Jesuskind? Was würden die anderen Kinder denken? Was würden die vielen Eltern und Großeltern sagen? Andererseits hatte man so kurz vor dem Spiel gar keine andere Wahl. Eine andere Ersatzpuppe aufzutreiben war unmöglich. Sollte man das Risiko eingehen?

Als der erste Schreck verflogen war, sagte Klara zu Opa Franz und Frau Maier: „Kommt ihr mal bitte mit in die Sakristei. Ich wollte euch noch etwas zeigen.“ Und in der Sakristei zog Klara eine ausgetrennte Schreibheftseite heraus und fragte. “Ich habe meinen Text ein bisschen verändert, darf ich das so sagen?“ Frau Maier las die Zeilen durch, lächelte Klara zu und sagte: „Das ist ja großartig. Du hast Weihnachten begriffen, ja mach das so“ Opa Franz fragte: „Hast du das selbst geschrieben?“ Und Klara fügte hinzu: „Johannes hat mir dabei ein bisschen geholfen.“

Und so kam es, dass im Krippenspiel der Verkündigungsengel diesmal ein paar Zeilen mehr sagte als sonst. Als Klara in ihrem Engelgewand vor der großen Gemeinde stand, sagte sie laut und mutig:

„Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll.
Ja, dem ganzen Volk:
Den Kleinen und den Großen,
den Schwarzen und den Weißen
         und den Gelben und den Roten,
den Gesunden und den Kranken,
denen mit und denen ohne Behinderung,
den Reichen und den Armen.

Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren;
er ist der Christus, der Herr.

Ja, für euch alle ohne Ausnahme ist er geboren,
für die Heilen und die Kaputten,
für die Glücklichen und die Traurigen
für die Geliebten und die Ungeliebten
für die Frommen und die Sünder,
ganz einfach für alle Menschen.

Und als das Krippenspiel zu Ende war, sagte niemand auch nur ein Wort gegen das schwarze, beschädigte Jesuskind. Der Pfarrer ließ das schwarze Kind, Klaras Puppe über die Feiertage in der Krippe liegen und baute Klaras Zeilen sogar in seine Predigt ein.

Am ersten Werktag nach den beiden Feiertagen suchte Franz nochmal nach der alten Jesuskindfigur. Klara und Johannes halfen in der Sakristei. Johannes kletterte auf eine Leiter, und da sah er das Kind: Es lag ganz hinten auf dem hohen Sakristeischrank, nur von der Leiter aus zu sehen. Wahrscheinlich hatte jemand beim letzten Frühjahrsputz die Schachtel mit neuem Seidenpapier ausgepolstert, das Kind auf den Schrank gelegt, und versehentlich war es nach hinten gerutscht. Vorsichtig reichte Johannes seinem Opa Franz das Kind nach unten. Und Mesner Franz sagte zu dem Kind: „Schön, dass du wieder da bist. Aber dieses Jahr hast du Urlaub. Wir haben eine wunderbare Vertretung für dich gefunden.“

Und Klara sagte: „Danke, Opa!“

 

Peter Wünsche, Dezember 2018


peter.wuensche@t-online.de

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