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Winzig klein

 

„Das ist heute für dich“, sagte der Vorarbeiter zu der jungen Frau. Die saß an einem Tisch in einer düsteren Hinterhoffabrik in China. Sie war dort als Malerin eingestellt. Das bedeutete: Eine Maschine stieß regelmäßig kleine Plastikfiguren aus, und die Malerinnen mussten ihnen dann mit ein paar Farbtupfern so etwas wie Leben einhauchen.

„Das ist also heute meine Arbeit“, sagte die junge Frau zu sich selbst. Es sah nicht nach viel aus: Ein Karton, nur etwa so groß wie eine Schuhschachtel, stand da vor ihr; der Vorarbeiter hatte ihn gerade abgestellt. Aber die Arbeiterin war skeptisch.

„Mal sehen, was drin ist.“ Sie hob den Deckel ab, und ihre Befürchtung wurde wahr: Eintausend kleine Figuren aus hautfarbenem Plastik lagen darin, kleine Kinder mit ausgebreiteten Armen, jedes nur etwa so groß wie ein Daumennagel. Das würde wieder eine lange, anstrengende Schicht werden. Die tausend winzigen Figuren waren einzeln zu bemalen, erst dann war Feierabend. Zehn, elf mühsame Stunden lagen vor ihr, und am Abend würden die Augen von der dauernden Anstrengung höllisch brennen.

Sie griff zum Pinsel und fing an zu malen. Jedes Kind bekam eine weiße Windel, goldblonde Haare, einen winzigen roten Mund und zwei tiefschwarze Augen, kleiner als Stecknadelköpfe. Sie versuchte ihre Arbeit so gut wie möglich zu machen, aber Eile war geboten. So saß manchmal der Mund nicht ganz in der Mitte, der winzige Haarschopf war nicht gleichmäßig gefärbt, die Augen nicht exakt gleich groß. Aber sie wusste: Bei diesen winzigen Figuren, jede ziemlich genau zwei Zentimeter hoch, da schaute niemand mehr so genau hin. Masse stand vor Qualität.

Sie wusste auch, dass die winzigen Kinder für Europa bestimmt waren. Sie hatten etwas mit der christlichen Religion zu tun. An Weihnachten feierten die Christen die Geburt von Jesus, und sie glaubten, dass da Gott selbst in die Welt kam. Die Arbeiterin wusste nicht viel vom Christentum, aber der Gedanke war ihr sympathisch: Gott, der in die Welt der kleinen Menschen kommt, der Menschen wie sie selbst, in die Welt der Arbeiter, die sich für einen Minilohn abmühten, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Vielleicht konnte sie einmal mehr über diesen Christengott erfahren, der sich in einem kleinen Kind zeigt.

Über diesen Gedanken hatte sie 999 Figuren geschafft. Es war Abend geworden. Eine Figur war noch unbemalt. Und die Arbeiterin tat, was sie immer zu tun pflegte: Wenigstens eine der tausend Figuren sollte wirklich schön sein. Sie nahm sich am Ende ihrer Schicht trotz der Müdigkeit fast eine Viertelstunde Zeit, die letzte Figur zu bemalen: schön sorgfältig, mit gleichgroßen Augen, ohne Farbkleckse an der falschen Stelle. Schließlich war sie zufrieden: Es war das schönste Kind der Schicht geworden. Sie ließ die Farbe kurz trocknen und legte das winzige Kind mit den anderen 999 zurück in den Karton. „Gute Reise, mein Kleiner“, flüsterte sie ihm zu. „Hoffentlich wissen die Leute in Europa dich auch zu schätzen.“

***

Ein paar Wochen später schlenderte ein Mann mittleren Alters über den Weihnachtsmarkt der großen Stadt. Nein – das wollte er tun. In Wirklichkeit schlenderte er gar nicht, sondern er wurde über den Weihnachtsmarkt gedrückt und geschoben und gezerrt, und seine Versuche, eine Lücke im Gedränge zu finden, scheiterten immer wieder. Da steckte er manchmal fest zwischen Magenbrot, Marzipanstollen und Mandelbrennereien. Am engsten war es um die Glühweinstände herum. Es war der Samstag vor dem zweiten Adventssonntag, anscheinend genau der Tag, an dem die anderthalb Millionen Einwohner der Stadt Geschenke kaufen wollten, alle auf einmal. Der Mann kämpfte sich schließlich zu einem Stand mit Holzspielwaren durch. Für seine sechsjährige Tochter wollte er ein paar neue Möbel kaufen, die zu ihrem Puppenhaus passten. Er fand, was er suchte: ein Kinderbett, einen Tisch, einen Schrank, zwei Stühle und einen kleinen Teppich. Alles handgefertigt und nicht ganz billig – aber hübsch anzusehen; seiner Tochter würde das alles sehr gefallen.

Er machte sich auf den Heimweg. Als er dem größten Gewühl entkommen war, fielen ihm am Rand des Marktes einige Stände auf, an denen es ruhiger zuging. Über den Buden hing ein Schild: „Krippenmarkt“. Er hatte noch etwas Zeit und sah sich einen Stand näher an. Seine Augen blieben an einer Schachtel hängen, in der winzige Jesuskinder aus Plastik lagen. Er konnte nicht anders, als einige davon prüfend in die Hand zu nehmen. Wahrscheinlich chinesische Serienware, billig und schlicht.

Aber eines dieser winzigen Kinder fiel ihm auf. Es war sorgfältiger bemalt als die anderen, es schien ihn mit winzigen und doch großen Augen anzusehen. Es schaute auf das Preisschild; die Plastikfigur kostete nicht einmal halb so viel wie ein Glas Glühwein. Er kaufte das schöne Kindchen; die Verkäuferin packte die Winzigkeit sorgfältig ein, und der Mann steckte sie vorsichtig in seinen Geldbeutel. Zuhause verpackte er am Abend die Puppenmöbel für seine Tochter in roter Geschenkfolie. Und mit einem winzigen Klecks Klebstoff befestigte er das kleine Jesuskind außen auf dem Paket.

Zwanzig Tage später war Heiligabend. Nach der Kindermette wurden die Geschenke verteilt. „Ist das süß!“, rief Maria, die Erstklässerin. „Was meinst du?“, fragte der Vater, „du hast doch dein Paket noch gar nicht aufgemacht“. „Na das winzige Jesuskind da“, antwortete Maria. „Ich freue mich, wenn es dir gefällt“, sagte ihr Vater, „ich hatte schon gar nicht mehr daran gedacht.“

Maria zog sich in ihr Zimmer zurück, baute die neuen Puppenmöbel auf. Das winzige Jesuskind legte sie in das neue Kinderbett. Das passte zwar nicht wirklich, das Bettchen war mindestens fünfmal so groß wie das Kind – aber was machte das schon. Maria war die Kleinste in ihrer Klasse und wurde dafür manchmal gehänselt. Aber jetzt konnte sie für jemand da sein, der noch viel, viel, viel kleiner war. Es war ein glücklicher Heiliger Abend.

***

Das Jahr verging. Maria kam im Herbst in die zweite Klasse, ihr Bruder Josef in die erste. Josef hatte es schwer in der Schule. Nicht wegen der Lehrer, sondern wegen zweier Jungen aus der Nachbarschaft. Auch Josef gehörte zu den Kleineren in der Klasse, und die Nachbarjungen ließen ihn das deutlich spüren. Als sie ihm kurz vor den Weihnachtsferien den Zeichenblock zerrissen und seine Mütze klauten – wenn auch nur im Übermut – wollte Josef gar nicht mehr in die Schule gehen. Die Eltern versuchten ihn zu trösten. Und Maria kam auf eine Idee: Ich schenke meinem Bruder etwas ganz Schönes.

Sie nahm das winzige Jesuskind und gab es am Heiligen Abend ihrem Bruder Josef: „Schau mal, da ist einer, der auch ganz schwach aussieht – und doch kommt er von Gott und hat große Macht.“ Das tolle Gefühl, etwas wirklich Gutes getan zu haben, machte auch diesen Heiligen Abend für Maria wunderschön.

***

Josef hatte natürlich kein Puppenhaus, und so steckte er das winzige Jesuskind in seine Hosentasche. Immer, wenn die größeren Nachbarjungen ihm zu nahe kamen, fühlte er in seiner Tasche die Figur, und das gab ihm Kraft, so manches auszuhalten und auch mal auf ihre Beleidigungen eine schlagfertige Antwort zu finden.

Doch dann, im späten Winter, geschah das Unglück. Als Josef das Taschentuch herauszog, fiel die kleine Figur auf die nasse Straße. Er bemerkte zwar sein Missgeschick, hob das Jesuskind schnell wieder auf und wischte es mit seinem Taschentuch ab.

„Was hast du denn da?“ ertönte eine Stimme hinter ihm.

„Zeig mal“, sagte die andere.

Er brauchte gar nicht hinzusehen, da waren wieder seine Peiniger. Und bevor er sich versah, hatten sie ihm die Figur aus der Hand gerissen.

„Ach, unser kleiner Josef spielt mit Puppen“, sagte die eine Stimme, „wie ein Mädchen“, die andere.

„Gib her!“, rief Josef.

„Hol‘s dir doch, dein Püppchen“, hörte er.

Der Nachbarjunge nahm Schwung und warf die winzige Figur in weitem Bogen weg. Sie war klein und leicht, und so flog sie weiter und höher als geplant. Sie landete in der Dachrinne, unerreichbar, weg für immer. Weinend ging Josef heim.

***

So lag die Figur auf dem Dach; sie hatte sich an einer Ecke der Dachrinne festgeklemmt, der Regen konnte sie nicht fortspülen. Der Frühling kam. Die Vögel bauten ihre Nester. Einer Amsel fiel die kleine Figur auf. Sie merkte schnell, dass sie nicht fressbar war, aber wie Singvögel so sind, baute sie die bunte Figur einfach in ihr Nest mit ein. Der Sommer kam, vier junge Amseln verließen das Nest und zuletzt auch die Alte. Der Herbst kam, es wurde Anfang Dezember, der erste Wintersturm zog über das Land und brachte schon ein bisschen Schnee.

Nach dem Sturm schien die Sonne wieder; Maria und Josef nutzten das schöne Wetter und gingen trotz der Kälte hinaus in den Garten. Unter einem Baum lag ein verlassenes Amselnest, von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Der Sturm hatte es vom Baum geblasen. Die Geschwister nahmen das Nest hoch, befreiten es vom Schnee – und trauten ihren Augen nicht. Da war in das Nest ein winziges Jesuskind eingewoben. Und an den schönen Augen erkannten sie sofort: Das ist unser Jesuskind.

Drei Wochen später war wieder Weihnachten. Das wunderbar wiedergefundene winzige Jesuskind lag in einer aus einer Streichholzschachtel gebastelten Krippe unter dem Christbaum und lächelte alle an. Es wurde wieder ein friedliches und glückliches Weihnachtsfest.

 ***

Was meint Ihr? Ist die Geschichte wahr – oder habe ich die erfunden? Was ist mit dieser Geschichte von dem winzigen Plastikjesuskind, das in einer Fabrik in China geboren wurde, das die Menschen anrührte und zur Liebe anstiftete, das verloren war und wiedergefunden wurde, das Gewalt erlitt und neu zum Leben kam? Ganz oder teilweise so geschehen? Wahr oder ausgedacht? Oder kann vielleicht auch Erfundenes trotzdem wahr sein?

Eines ist sicher: Das winzige Jesuskind gibt es wirklich. Ich habe es hier in meiner Hand, und die Kinder können ‘mal schnell nach vorne kommen und es anschauen.


Peter Wünsche, 4.12.2011

peter.wuensche@t-online.de

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