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Berufsberatung, thüringische Kleinstadt, um 1975
STEPHAN Ich möchte aber Musik studieren.
MAJOR Musik? Na, hervorragend! Unsere Nationale Volksarmee braucht dringend ausgebildete Musiker, die bereit sind, ihr Wissen anzuwenden und weiterzugeben ... Wir werden Sie zum Studium delegieren.
STEPHAN verlegen Diese Art Musik ...
MAJOR ihn unterbrechend Sie denken wohl, in der Nationalen Volksarmee wird nur Marschmusik gemacht? Da täuschen Sie sich. Unsere Orchester spielen auch Sinfonien, Walzer, alles! Was für ein Instrument spielen Sie Sie denn?
STEPHAN Orgel.
Der Major ist etwas überrascht. Das Gespräch stockt, und er beginnt, in der Akte zu blättern. Hier und da überfliegt er ein paar Zeilen.
MAJOR Aber in ihrem Lebenslauf steht gar nicht, daß Sie religiös gebunden sind.
STEPHAN Man muß doch nicht religiös gebunden sein, wenn man Orgel spielt.
Der Major denkt nach.
MAJOR Stimmt. Immer, wenn im Fernsehen aus dem Großen Sendesaal übertragen wird, ist dort eine Orgel. Sich über sich selbst wundernd. Wenn man „Orgel“ hört, denkt man sofort „Kirche“. Pause. Aber wenn Sie Musik studieren, lernen Sie sowieso noch andere Instrumente!
STEPHAN Ich glaube trotzdem nicht, daß ich zum Offizier geeignet bin.
***
Das sind ein paar Zeilen aus dem Drehbuch zum Film „Die wunderbaren Jahre“ von Reiner Kunze. Sie bringen zum Ausdruck, was für viele, keineswegs nur für Offiziere der DDR-Armee, fast selbstverständlich ist: Kirche und Orgel gehören zusammen. Eine Kirche ohne Orgel erscheint unvollständig, und eine Orgel außerhalb der Kirche ist für viele etwas Ungewöhnliches.
Dass man bei „Orgel“ sofort an „Kirche“ denkt, war keineswegs immer selbstverständlich. Es hat einige Zeit gedauert, bis der Kirchenraum und das Instrument so eng zusammenwuchsen, wie es heute erscheint. Die frühen Christen lehnten Instrumentalmusik in der Kirche fast durchweg ab. Orgel- und Bläserklänge erinnerten allzu sehr an den heidnischen Kult, und davon wollte man sich fern halten. Die östlichen Kirchen blieben zumeist bei dieser Linie: Der menschliche Gesang ist dort die einzige zulässige Form von Musik in der Liturgie.
Im Westen setzte eine Wende im Mittelalter ein, als die heidnischen Götter in Vergessenheit geraten waren und eine Verwechslungsgefahr nicht mehr bestand. Mit anderen Zeremonien übernahm man auch die Orgelmusik aus dem byzantinischen Kaiserkult in den Gottesdienst. Zunächst war die Orgel hier nur eine Abwechslung zur menschlichen Stimme. Es verbreitete sich der Brauch, beim Psalmengsang jeden zweiten Vers durch die Orgel spielen zu lassen. Die Begleitung von Prozessionen, des Ein- und Auszugs zum Beispiel, kam dazu. Erst im Spätmittelalter begann man damit, dass die Orgel mehr und mehr auch den Gesang der Schola und des Chores stützte. Und als im Übergang zur Neuzeit zunehmend volkssprachliche Lieder in der Liturgie aufkamen, zunächst in den Randbereichen vor und nach der Messe oder der Predigt, dann auch mehr und mehr während der Liturgie selbst, da bekam die Orgel schließlich die Aufgabe, die sie bis heute in vielen Kirchen vorwiegend wahrnimmt, nämlich den Gesang der Gemeinde zu begleiten.
Liturgie ist ein Dialog zwischen Gott und den Menschen. In der Verkündigung spricht Gott den Menschen an. Der Mensch empfängt das Wort, lässt es in sich wirken und reifen; dies geschieht durch verschiedene Formen der Meditation und der Auslegung. Und schließlich gibt der Mensch seine Antwort im Gebet, das auch die Form von Gesang haben kann.
Die Orgel hat in diesem Dreischritt mehrere Rollen, die in verschiedenen Gottesdienstformen unterschiedlich stark zum Tragen kommen.
Die Verkündigung selbst ist zunächst nicht Sache der Orgel. Verkündigt wird das Wort Gottes in seiner reinen Form, und es ist nicht ersetzbar. Freilich kann die Orgel im Umfeld der Verkündigung wirksam werden: Sie kann die Gemeinde, z. B. in einem geeigneten Vorspiel, zu einer hörenden Gemeinde machen; sie kann die Herzen aufschließen für das, was gesagt und verkündet wird; sie kann eine Atmosphäre schaffen helfen, die den Menschen aufnahmebereit macht.
Einen weit größeren Raum hat die Orgel beim zweiten Schritt, der Vertiefung des gehörten Wortes. Von der Orgel begleitete Gesänge, aber auch das reine Instrumentalspiel tragen dazu bei, das verkündete Wort in den Hörenden Wurzeln schlagen zu lassen. Musik und Gesang schaffen einen Raum der Meditation, in dem das Volk Gottes das Wort durch Nachsinnen in sich aufnimmt und zu dessen Tiefe findet. Künstlerisches Orgelspiel kann sogar eine Form der Auslegung sein, wenn beispielsweise Gedanken aus den Lesungen in Klang-Bilder umgesetzt werden und den Menschen über den Verstand hinaus in seiner Ganzheit ergreifen.
Und schließlich dient die Orgel dem dritten Schritt im gottesdienstlichen Geschehen: Sie führt und unterstützt das gesungene Lob Gottes, wenn der Mensch mit seinem Lobpreis und seinem Dank auf das verkündete Wort antwortet. Sie hilft, der Bitte und der Klage - heute eher als intime Sache des Einzelnen verstanden - einen gemeinsamen Ausdruck zu verleihen. Auch die selbständige Instrumentalmusik kann zu einer Art wortlosen Gebets werden.
Ein Komponist, der seine Fähigkeiten zur Ehre Gottes einsetzt, ein Organist, der versucht, das geschriebene Werk sorgsam in lebendige Klänge umzusetzen, eine Orgel, die mit bestem Können gebaut ist, eine Gemeinde, die zuhört und staunt über die Möglichkeiten der Musik und die Fähigkeiten, die in der Schöpfung dem Menschen gegeben sind: Sie tragen dazu bei, dass der Mensch und die ganze Schöpfung Gott Antwort geben auf seine Verheißung und seinen Anspruch.
Eine Orgel kann nicht Glauben erzeugen. Eine Orgel - das zeigen die oben erzählte Begebenheit und der Blick in die Geschichte - muss nicht einmal von sich aus im Dienst des Glaubens stehen. Aber sie kann ein Mittel sein, Glauben zu vertiefen.
Prof. Dr. Peter Wünsche
Nebenamtlicher Seelsorger für Geisfeld